Ein plötzlicher Todesfall
dieser Kirche gesessen hatte, jahrelang völlig zufrieden gewesen war und an Weihnachten, zu Ostern und zum Erntedankfest voller Inbrunst die Kirchenlieder mitgesungen hatte. Sie hatte den Heiligen Michael mit seinem hübschen, femininen, präraffaelitischen Gesicht und dem lockigen, goldenen Haar immer gemocht ⦠aber an diesem Morgen sah sie ihn zum ersten Mal anders, mit diesem FuÃ, der beinahe lässig auf dem sich windenden Teufel ruhte, und fand seinen sorglosen Gesichtsausdruck unheilvoll und arrogant.
Die Kirchenbänke waren überfüllt. Gedämpfte Geräusche, hallende Schritte und leises Rascheln erfüllten die staubige Luft, während die Glücklosen weiter in die Kirche strömten und Stehplätze entlang der linken Wand einnehmen mussten. Einige Hoffnungsvolle trippelten auf Zehenspitzen den Gang hinauf, falls in den vollen Bänken doch noch ein Platz frei sein sollte. Howard blieb unbewegt und standhaft, bis Shirley ihm auf die Schulter tippte und flüsterte: »Aubrey und Julia!«
Woraufhin Howard sich schwerfällig umdrehte und mit dem Gottesdienstblatt wedelte, um die Aufmerksamkeit der Fawleys auf sich zu lenken. Zügigen Schrittes kamen sie über den Teppich im Mittelgang auf sie zu: Aubrey, groÃ, dünn und mit schütterem Haar, in einem dunklen Anzug, Julia, die ihr hellrotes Haar zu einem Chignon aufgesteckt hatte. Sie lächelten dankbar, als Howard weiterrutschte, die anderen zur Seite schob und dafür sorgte, dass die Fawleys genug Platz hatten.
Samantha war derart zwischen Miles und Maureen eingeklemmt, dass sie auf der einen Seite Maureens scharfer Hüftknochen drückte, die Schlüssel in Milesâ Tasche auf der anderen. Wütend versuchte sie, sich wenigstens einen Zentimeter mehr Raum zu verschaffen, aber weder Miles noch Maureen konnten irgendwohin ausweichen, also starrte Samantha geradeaus und richtete ihre Gedanken voller Rachegefühle auf Vikram, der in den Monaten, seit sie ihm das letzte Mal begegnet war, nichts von seiner Anziehungskraft verloren hatte. Er fiel so ins Auge, war so unbestreitbar gutaussehend, dass es schon verrückt war. Am liebsten hätte man laut gelacht. Mit seinen langen Beinen und den breiten Schultern, mit dem flachen Bauch, dort, wo das Hemd in der Hose steckte, und mit diesen dunklen Augen sah er aus wie ein Gott im Vergleich zu den anderen Männern von Pagford, die so schlaff und bleich und fett waren. Als sich Miles vorbeugte, um mit Julia Fawley geflüsterte Höflichkeiten auszutauschen, bohrten sich seine Schlüssel schmerzhaft in Samanthas Oberschenkel, und sie stellte sich vor, wie Vikram ihr marineblaues Wickelkleid aufriss, und in ihrer Phantasie hatte sie es versäumt, das dazu passende Mieder anzuziehen, das die Attraktivität ihres Ausschnitts hätte verbergen sollen â¦
Die Orgelregister quietschten und alles verstummte bis auf ein leises anhaltendes Rascheln. Alle drehten sich um, als der Sarg durch den Mittelgang getragen wurde.
Die Sargträger passten auf beinahe komische Weise nicht zueinander. Barrys Brüder waren beide eins siebzig, Colin Wall eins neunzig, so dass das hintere Ende des Sarges höher aufragte als das vordere. Der Sarg selbst war nicht aus lackiertem Mahagoni, sondern aus Korbgeflecht.
Das ist ja ein verdammter Picknickkorb! , dachte Howard wütend.
Ãber viele Gesichter huschten erstaunte Blicke, als der Weidenkorb an ihnen vorbeizog, doch einige hatten im Voraus über den Sarg Bescheid gewusst. Mary hatte Tessa erzählt (die es wiederum an Parminder weitergegeben hatte), die Entscheidung über das Material habe Fergus, Barrys ältester Sohn, getroffen, der auf Weide bestanden hatte, weil es ein erneuerbarer, rasch wachsender Rohstoff sei und daher umweltfreundlich. Fergus war ein leidenschaftlicher Verfechter für alles Ãkologische.
Parminder gefiel der Weidensarg besser, viel besser als die stabilen Holzkisten, in denen die meisten Engländer ihre Toten begruben. Ihre GroÃmutter hatte immer den Aberglauben gehegt, die Seele wäre in etwas so Schwerem und Solidem eingesperrt, und vor allem fürchtete sie sich davor, wie britische Bestatter die Deckel zunagelten. Die Sargträger setzten den Sarg auf der mit Brokat bedeckten Totenbahre ab und zogen sich zurück. Barrys Sohn, seine Brüder und sein Schwager schoben sich in die vordere Bank, und Colin ging mit wippenden Schritten zu seiner
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