Ein Pyrenäenbuch
sie
ausgewählt, hat sie für würdig befunden, sie und keine andre.
Die andern werden nun in die
Krankenhäuser abgefahren. Diesmal war es mit ihnen nichts. Vielleicht aber
kommt noch die Heilung...
Ein Zug rollt an. Der
Krankenträger, der hier die Ordnung aufrechtzuerhalten hat, trennt ihn nach
Nationen. «Français?» fragt er. «Italien?» Ein schrecklicher Stumpf von einem
Menschen sitzt in einem Stuhl, mit ganz großem Kopf, winzigen Gliedmaßen, eine
Masse Fleisch. Das Ding nickt mit dem Kopf. Frauen mit wunderlichen Auswüchsen fahren
vorbei, manchen hat man Tücher über das Gesicht gelegt, man ahnt nur das
Entstellte darunter. Ein rothaariger junger Mensch wird herangefahren, er
klappert mit den Zähnen, er hat Fieber, und seine langen gelben Zähne ragen
seltsam aus dem spitzen Gesicht. «Français?» fragt der Krankenträger.
«Italien?» Der Fahrer scheint es nicht zu wissen, und der junge Mensch
antwortet nicht. Da will der Ordner nach dem Abzeichen sehn. Er lüftet die
Decke... Aber das ist eine Frau, die darunter liegt! eine junge Frau mit welken
Brüsten, und jetzt hat sie die Augen geschlossen und sich hintenübergelegt und
sagt überhaupt nichts mehr. Sie verschwindet im Asyl. Und so kommen noch viele.
Die Menge diskutiert die
Heilungen, die sich in den Gerüchten minütlich vergrößern, an Zahl, an Schwere,
an Kraft des Mirakels. Sehr langsam zerstreuen sich die Massen im Staub der
Nachmittagssonne.
Für den Abend ist die große
Fackelprozession angesetzt, schon kurz nach dem Abendbrot laufen alle Leute in
Lourdes mit kleinen Fackelchen herum, wie man sie uns auf den Kinderfesten in
die Hand gesteckt hat. Blaugedruckte Papierschirme mit dem Bildnis der Jungfrau
umhüllen die Kerze. Aber bevor das angeht, sehe ich noch etwas anderes.
Die Kranken können die
Hospitäler nicht verlassen, sie können den Fackelzug nicht verstärken. Wenn der
Pilgerzug groß genug ist, dann versammeln sich manchmal die Angehörigen vor dem
großen Krankenhaus und ziehen an ihren Kranken vorbei. Und das ist das
Erschütterndste, das ich in Lourdes gesehen habe.
Zum Fackelzug wird das ‹Ave
Maria› gesungen. Verfasser und Komponist ist der Abbe Gaignet, ein
Geistlicher aus der Vendee, er schuf dieses Lied im Jahre 1874. Es hat
unzählige Strophen, einfache Vierzeiler zu einer simpeln Melodie, und als
Refrain ist ihm das Ave angesetzt, das in der französischen Liedbetonung
ungefähr folgendermaßen klingt:
Avé
Avé
Avé
Mariaa —
Es ist so einfach, daß es ein
Kind nachsingen kann. Und da stehen sie nun vor dem Hospital de
Notre-Dame-des-Douleurs und singen:
Sur cette colline
Marie apparut
Au front qu’elle incline
Rendons le salut:
Avé — Avé —
In den hohen hallenartigen
Krankenzimmern ist helles Licht angezündet. Kerzen aller Art, kleine Tische
sind aufgebaut mit beleuchtetem Kirchenschmuck. In den Betten liegen die
Kranken und sehen mit glänzenden Augen auf den Zug, der da heransingt. Wir
ziehen durch alle Gänge, durch die Korridore, in den Höfen sind wir, wir gehen
durch alle Zimmer, durch alle, es soll keiner ausgelassen werden. Ave — Ave —
Ave Maria...
Auf den Backenknochen liegt hektisches
Rot, die Gesichter sind mit Schweißperlen besetzt, der Ausdruck ist fiebrig,
aufgeregt... Ein Kind streckt die Hände nach den bunten Lichtern aus... Eine
alte Frau schluchzt und kann gar nichts sehen vor Tränen. Ein Alter liegt mit
gekreuzten Händen, ich weiß zufällig, wie sein Körper aussieht — er leidet
Schmerzen. Wir steigen die Treppen hinauf, zum ersten Stock, zum zweiten... Die
Mauern hallen wider vom Chorgesang. Wachsbleiche Frauengesichter sehen uns an,
es ist so viel Zärtlichkeit in diesen Augen, kraftlose Hände liegen auf Decken,
einmal weint ein ganzer Saal. Mir steigt etwas in der Kehle auf.
Inzwischen haben sie sich vor
der Kirche und um die Kirche versammelt. Auf den Rampen stehen sie Kopf an
Kopf, die Plattform ist gedrängt voll, der Platz ist leer, aber weit unten, an
der Espla- nade, tauchen Feuerfünkchen auf... Sie fangen an.
Und da leuchtet die Basilika,
ihre Konturen sind mit Glühlämp-chen nachgezogen, ein Scheinwerfer erhellt die
Spitze des Turmes, ; der liegt in bleichem Licht und sieht aus, als verschwinde
er in den Wolken; oben auf dem Pic du Jer, einem Berg in der Nähe von Lourdes,
blitzt ein Feuerkreuz. Und nun setzt sich die Prozession in Bewegung.
Hier hört jede Schätzung auf,
es ist einfach ein breiter Lichtstrom, der sich dahinbewegt, die
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