Ein Pyrenäenbuch
Pünktchen
ergießen sich glitzernd über den tiefen Abgrund vor der Kirche. Bevor sie sich
auf der Esplanade versammeln, gehen sie über die Plattform, sie ziehen an mir
vorbei, und ich höre alle einundfünfzig Strophen des Marienliedes. «Espérance»
— und «France» kann ich hören, und auch von der Wahrheit wird gesungen...
La France l’écoute
Se lève soudain.
Et se met en route
Chantant ce refrain:
Avé
— Avé
Avé
Maria —!
Aber nun sind die letzten hier
oben vorüber, und der große Feuerzug ist auf dem Platz angekommen. Sie
marschieren in Schlangenlinie, sie nähern sich auf dem gewundnen Lichtpfad
immer mehr der Kirche... Und als sie nun alle, alle vor dem Tor der Kirche
stehen, wie um Einlaß singend, da zischen einige: Ssss! — es wird einen
Augenblick still, und dann steigt unter den Fackeln das Credo zum Himmel.
Credo in unum Deum, Patrem
omnipotentem...
Sie singen es. Männer und
Frauen, auswendig, alle die schwierigen lateinischen Worte, die sie französisch
aussprechen: Spiritüs sanctüm... Das steht wie ein Wall da unten.
Unerschütterlich, voller Kraft klingt das Credo.
Et exspecto
resurrectionem mortuorum.
Et vitam venturi
saeculi. Amen.
Das ist ein Tag in Lourdes.
3. Siebenundsechzig Jahre
Vor siebenundsechzig Jahren
fing es an. Lourdes war damals «ein Haufe trüber Dächer, von traurigem
Bleigrau; so stehen sie da, unterhalb der Straße eng zusammengedrückt». Taine
hat seine Reise im März 1858 abgeschlossen, er kam grade einen Posttag zu früh.
Sonst hätte er folgendes beobachten können:
In Lourdes lebte zu dieser Zeit
eine kleine Müllerstochter, Bernadette Soubirous, sie war vierzehn Jahre alt.
Das Kind war immer krank, es litt an Asthma, an Atemnot, an schweren
Hustenanfällen. Die Alten hatten viele Kinder und wenig Brot, es ging ihnen
nicht gut. Im Sommer hütete die Kleine die Schafe in Bartrés, in der Nähe von
Lourdes, bei einer Frau, die ihr Kind verloren und die kleine Soubirous genährt
hatte; diese Frau ist heute noch am Leben. Lesen und schreiben konnte das Kind
nicht — an kalten Wintertagen, wenn in den Hütten abends kein Feuer brannte, um
zu wärmen, und kein Licht, um zu leuchten, versammelten sich die ärmeren
Bauernfrauen und ihre Kinder in der kleinen Kirche zu Lourdes, und da erzählte
der Curé fromme Geschichten, von göttlichen Erscheinungen, wunderbaren Quellen,
Segen und Heilungen der Gebenedeiten. Die Pyrenäen sind reich an solchen
Legenden. Ihnen gemeinsam ist die plötzlich auftauchende Erscheinung, meist
eine weiße Frau, sie vertraut dem ahnungslosen Hirten ein gutes Geheimnis an,
das er nie verraten darf, sie gibt ihm einen Auftrag, sie zeigt ihm eine
Quelle, die Quelle heilt Kranke. Um Lourdes wimmelt es: Unsre Liebe Frau in
Barbazan, Unsre Liebe Frau von Nesté, Médoux, Bétharram, Garaison Bourisp — so
viel Namen, so viel Wundererscheinungen, weiße Frauen, Heilquellen,
Geheimnisse. In der abendlichen Kirche, wohlgeborgen vor den Schneestürmen, im
Flimmer der Kerzen, die die Schatten im Halbdunkel auf Goldgrund tanzen ließen,
saß die Kleine und sog in sich auf, was es da zu hören gab. Manchmal war sie
traurig: in ihrer Atemnot hatte sie husten müssen und das Schönste nicht
gehört.
Der Bruder ihrer Ziehmutter war
ein Priester, er brachte oft bunte Bildchen mit und auch die Bibel und
Heiligengeschichten, die das Mädchen nicht lesen konnte... Aber die Bilder
konnte sie betrachten, die schönen Bilder mit der Heiligen Mutter Maria im
weißen Gewände, mit den Rosenornamenten, die ihr fromme Maler zu Häupten
gesetzt hatten, und sie sah sich diese Bilder gern an. Das, was ihr die
Priester an solchen Winterabenden erzählten, war ihr geistiges Leben; denn sie
war noch nicht eingesegnet und wußte nichts von Religion als diese vagen und
frömmelnden Historien. Da war von Gott-Vater die Rede, von der Heiligen Jungfrau,
von Jesus und von der Dreieinigkeit und wohl auch von der unbefleckten
Empfängnis.
Denn drei Jahre vorher, am 8.
Dezember 1854, war von Pius IX. das Dogma der conceptio immaculata verkündet
worden, das beinah so viel Aufsehen gemacht hat wie das von der Unfehlbarkeit
des Papstes. Diese Tatsache wird in der gesamten populären Bernadette-Literatur
verschwiegen. Wir werden sehen, warum.
Am Donnerstag, dem 11. Februar
1858, fror es in Lourdes, der Himmel war grau, die Bauern machten, daß sie ihre
Arbeit draußen beendigten, und beeilten sich, in die Hütten an den Herd zu
kommen. Der
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