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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Mitte des Oberarms, zwischen seinem Ellbogen und der Schulter. Sie war gelb verkrustet und die Haut ringsum war rot angelaufen. Shell spürte, dass sie ganz heiß war und geschwollen.
    »Wie ist das passiert, Jimmy?«
    »Es war ein Stein«, sagte er.
    »Ein Stein?«
    Er nickte. »Neulich morgens. Da habe ich diesen scharfen kleinen Stein gefunden. Aber ich hab ihn nicht auf den Haufen gelegt, sondern hab ihn ausprobiert. Um zu sehen, ob er scharf genug ist, um damit zu schneiden.«
    Shell nickte. »Verstehe.«
    »Er liegt immer noch in meiner Schatzdose.«
    »So einen bösen Stein solltest du wegwerfen, Jimmy.«
    »Nein!«
    »Warum denn nicht?«
    »Der ist aus der Steinzeit. Er hat eine Spitze. Wie ein Pfeil.«
    Shell zuckte mit den Achseln. »Glaub ich nicht.«
    Jimmy fädelte sich wieder in seinen Schlafanzug. »Ist er aber. Ich weiß es.«
    »Okay, dann ist er es.« Sie lächelte. »Wenn es dir wieder besser geht, Jimmy, dann besorge ich dir ein Geschenk. Von McGrath’s.«
    »Ehrlich, Shell?«
    »Versprochen. Was hättest du denn gern?«
    Er verzog das Gesicht so lange und grübelte darüber nach, dass Shell schon dachte, er sei wieder eingeschlafen. Dann starrte er sie mit erwartungsvollen Augen an. »Shell«, flüsterte er. »Ich möchte einen Eimer.«
    »Einen Eimer?«
    »Einen Eimer und eine Schaufel. Für den Strand.«
    »Aber das hast du doch schon – irgendwo hinterm Haus.«
    »Der alte Eimer hat einen Riss. Und die Schaufel ist verschwunden.«
    »Okay, Jimmy. Ich hol dir Eimer und Schaufel.« Sie wusste nicht, wie sie das Geld dafür auftreiben würde, aber sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, denn als er wenig später einschlief, wirkte sein schmales weißes Gesicht ganz friedlich. Sie selbst konnte nicht schlafen. Sie saß an seinem Bett und strich ihm übers wuschelige Haar. Es dauerte nicht lange und Mum saß neben ihr, einen Arm um ihre Schulter gelegt. Ihr leises Summen erfüllte die friedvolle Dunkelheit, folgte der getragenen Melodie auf und ab, ein Lied, an das Shell sich nicht so recht erinnern konnte.

Dreizehn
    Der Palmsonntag kam und ging, ohne dass Pater Rose sich in der Kirche hätte blickenlassen. In dieser Woche musste er unten auf der Ziegeninsel die Messe lesen. Der Montag verstrich, dann der Dienstag. Am Mittwoch vor Ostern ging es Jimmy wieder gut. Er frühstückte und verlangte sein Geschenk.
    Shell erinnerte sich an die fünf Münzen, die sie für die Armen der Gemeinde verstreut hatte, die sich in einer Stunde der Not befanden. Sie betete zu Gott, dass er Jimmy zu ihnen zählte, und lief die Felder hinauf, um die Münzen zurückzuholen. Lange kroch sie am Boden herum, fand aber nur drei wieder. Shell hatte sich inzwischen erkundigt, was der Eimer und die Schaufel bei McGrath’s kosteten. Es reichte nicht.
    Sie durchsuchte das ganze Haus, überall. Ein Zehnpencestück war unter den Kühlschrank gerollt. Im Futter ihrer Schultasche waren noch fünf Pence. Es reichte immer noch nicht.
    Dad war fort zum Sammeln. Sie betrat sein Zimmer. Die Spiegel der Schminkkommode verlockten zu einem weiteren Ewigkeitsspiel, doch Shell widerstand. Sie stieg in den Schrank und durchsuchte Dads Taschen.
    Sie fand, was sie brauchte, und stahl es, wobei sie sich bekreuzigte.
    Dann ging sie ins Dorf und sperrte Trix und Jimmy im Haus ein, damit sie auf der Straße keine Dummheiten machen konnten. Als sie erklärte, was sie besorgen wollte, versprachen sie hoch und heilig brav zu sein, solange sie fort war.
    Mr McGrath ließ ihr eine Menge Zeit beim Wählen. Sie kaufte einen Eimer in Apfelgrün und eine Schaufel, blau wie das Meer. Als sie bezahlen wollte, legte er zwinkernd eine zweite Schaufel dazu, die marienkäferrot war. »Unser Geheimnis, Shell«, sagte er, wie er es eine Woche zuvor schon bei den Kaugummis getan hatte. Sie lächelte.
    Ehe sie den Heimweg antrat, lief sie zur Kirche. Die Seitentür stand offen. Sie stieg die Empore hinauf, setzte sich und lauschte angestrengt.
    Jesus war irgendwo ganz in der Nähe. Wieder ächzte das Holz. Unten in den Seitenschiffen spielte das Licht. Sie betete zu ihm, er möge ihr den Diebstahl vergeben. Sie betete für den Frieden der Seelen von Michael Rose und Moira Talent, ihre eigene tote Mutter, und für all die anderen, die heimgegangen waren. Sie betete, dass alles Unheil auf der Welt ein Ende finden möge. Shell war immer noch am Beten, als sich unten in der Sakristei Stimmen erhoben. Pater Carroll und Pater Rose betraten das Hauptschiff der

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