Ein reiner Schrei (German Edition)
Kirche, sie unterhielten sich. Vor dem Altar blieben sie stehen. Shell duckte sich hinter die Brüstung.
»Jetzt beginnt sie wieder, die Zeit der violetten Stoffe«, seufzte Pater Carroll.
»Auf dieser Jahreszeit lastet immer eine gewisse Schwere«, stimmte Pater Rose zu.
»Nora hat für die Lilien gesorgt.« Pater Carroll schritt zum Pult und blätterte ein oder zwei Seiten in der Bibel um. »Joe Talent übernimmt die Lesungen.«
»Joe Talent? Schon wieder?«
»Ich weiß, er liest wie ein rostiger Nagel, aber er wäre verletzt, wenn ich ihn übergehen würde.«
Ein Anfall von Heiterkeit durchzuckte Shell oben auf der Empore. Sie krümmte sich, um ihn zu unterdrücken. Ihre Kirchenbank knarrte.
»Es ist windig heute«, sagte Pater Carroll.
»Sie sind eine arme Familie, nicht wahr?«, fragte Pater Rose. Die Art, wie er es sagte, ließ Shells lautloses Lachen abrupt verstummen.
»Eine der ärmsten. Der Vater ist seit dem Tod seiner Frau Sozialhilfeempfänger. Ohne sie ist er ein armer Hund.«
»Wann starb sie denn?«
»Letztes Jahr im Herbst. Sie war eine wunderbare Frau, Moira. Sie hatte etwas Gütiges an sich und eine Stimme, mit der sie einen Engel hätte bezaubern können. Ohne sie ist er wie ein Auto, dem das Benzin ausgegangen ist.« Pater Carroll musste ins Seitenschiff gegangen sein, denn seine Stimme wurde lauter. »Soll ich die Kirche jetzt abschließen?«, sagte er nachdenklich, mehr zu sich selbst als zu Pater Rose. Er befand sich genau unterhalb von Shell. Die Vorstellung, den ganzen Tag hier eingesperrt zu sein, während Jimmy und Trix allein zu Hause waren, ließ sie erschauern.
»Ich habe die älteste Tochter getroffen«, sagte Pater Rose.
»Nein, ich lasse es«, murmelte Pater Carroll. »Vielleicht gibt es ja die eine oder andere arme Seele, die an diesem heiligen Tag herkommt, um zu beten … Was hast du gesagt?«
»Shell. Die älteste Talent-Tochter. Ich habe mich ein paarmal mit ihr unterhalten. Sie hat die Spendengelder letzte Woche für ihren Vater bei mir abgegeben. Und sie gab zu, dass sie die Schule schwänzt.«
Pater Carroll seufzte. »Als ob ich das nicht wüsste. Miss Donoghue von der Grundschule hat mir wegen der beiden Jüngeren schon in den Ohren gelegen. Aber was können du und ich schon tun außer beten?«
»Ich habe in der Schule angerufen.«
»Du hast was ?«
»Ich habe in der Schule angerufen.«
Deswegen hatte Dad also darauf bestanden, dass sie in der letzten Woche des Schuljahrs am Unterricht teilnahmen. Pater Carroll erwiderte nichts, aber Shell hörte sein missbilligendes Schnalzen. Er entfernte sich wieder. Von ihrem Versteck aus riskierte sie einen zweiten verstohlenen Blick über das Geländer der Empore. Pater Carroll hatte die Kommunionbänke mit beiden Händen gepackt. Seine Knöchel traten weiß hervor.
»Ich frage mich …«, fügte Pater Rose hinzu. »Ich meine, bei so einer Familie – sollten wir nicht irgendetwas tun?«
Pater Carroll ließ die Hände sinken. Pater Rose hatte die Augen zum Kruzifix erhoben, während er sprach. Shell hielt den Atem an. Zwischen den beiden lag eine Spannung in der Luft, die hin und her sprang, eine heiße, konzentrierte Energie, die die gesamte Kirche erfüllte.
»Joe sammelt fast jeden Tag Spendengelder«, sagte Pater Carroll. »Er liefert regelmäßig kleinere Summen bei mir ab. Ich denke mal, dass er einen guten Teil zurückbehält.«
Shell biss sich auf den Daumen, um keinen Mucks von sich zu geben. Es war bekannt, dass Dad stahl?
»Und ich finde, soll er’s doch haben«, fuhr Pater Carroll fort. »Er sammelt für die Armen, und arm ist er ja schließlich. Es ist nichts Falsches daran zu betteln, Gabriel. Bettler haben Gott immer schon nahegestanden. Mr Talent ist lediglich ein Bettler der stolzeren Sorte. Alles Gute für ihn. Das ist es, was ich für die Talents tun kann. Im Angesicht Gottes.«
Pater Rose erwiderte nichts. Er verschränkte die Arme und betrachtete eingehend den Fußboden.
Pater Carroll fuhr fort: »Er vertrinkt das Geld. Ist es das, woran du denkst? Wie sollten wir das wissen oder darüber richten können, falls es stimmt? Ein Tropfen hier und da schadet doch nichts.«
»Es ist keine glückliche Familie«, sagte Pater Rose.
»Woher weißt du das?«
»Ich spüre es. Tief in mir.«
»Du bist erst seit ein paar Wochen bei uns. Du kannst es nicht wissen.«
»Ich merke es. An Shells Verhalten. Ich bin mir sicher, dass …«
»Dass was?«
Pater Rose zuckte mit den Schultern. »Mit
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