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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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zurück. »Was fehlt Jimmy denn?«, fragte der Doktor. »Hat er Fieber?«
    »Ich glaube, es ist Meningitis, Doktor. Die Grippe, die das Gehirn befällt.«
    »Das bezweifle ich«, sagte der Doktor. »Zurzeit werden keine Fälle gemeldet, soweit ich informiert bin. Wie kommst du denn auf die Idee?«
    »Durch Pater Rose, Doktor.«
    »Pater Rose!« Der Doktor schnaubte und schüttelte den Kopf. »Was hat der denn damit zu tun?«
    »Nichts. Er hat mir nur heute davon erzählt, wissen Sie. Sein Bruder hatte diese Krankheit.«
    »Tatsächlich?« Dr. Fallon trat kopfschüttelnd aufs Gaspedal. »Dieser junge Kurat hat eine blühende Fantasie.«
    Shell erwiderte nichts. Sie dachte an Jimmy, wie heiß er gewesen war und wie ihn das Fieber quälte, und an Michael Rose, der nach einem Erzengel benannt worden war und dann so jung starb. Sie bogen um die letzte scharfe Kurve. Vor ihnen tauchte in der Dunkelheit die graue Wand aus Porenbeton auf, die den Standort ihres Bungalows markierte. Shell merkte, dass sie in ihrer Panik die Haustür sperrangelweit offen gelassen hatte.
    Dr. Fallon folgte ihr ins Haus, durch die Küche und bis zum Hinterzimmer, an Jimmys Bett.
    Trix wachte auf, als sie hereinkamen, und begann verwirrt zu wimmern. Shell ging zu ihr hinüber. »Pscht, Trix«, sagte sie. Der Doktor sah nach Jimmy. Shell hörte, wie er Hallo, junger Mann sagte, aber sie hielt nicht inne, um weiter zu lauschen. Als Mum im Sterben lag, hatte sie ihr oft gesagt, dass die Besuche des Arztes Privatsache waren. Shell wickelte Trix in eine Decke und trug sie auf ihren nassen, schmutzigen Armen hinaus in die Küche. Sie ließ sie in Dads Sessel plumpsen und gab ihr ein Zeichen, ruhig zu sein. Dann schlich sie in die Diele, bis zur Tür von Dads Schlafzimmer, und lauschte am Schlüsselloch. Außer seinem Schnarchen war nichts zu hören. Shell ging in die Küche zurück, holte den Kamm hervor und widmete sich wieder Trix’ Haaren.
    Es dauerte nicht lange, bis Dr. Fallon zu ihnen kam. »Wo ist euer Vater?«, sagte er. In seiner Stimme lag ein Kratzen. Shell starrte ihn an. Eine kalte Hand zerrte an ihren Eingeweiden.
    »Steht es so schlimm, Doktor?«
    »Mit Jimmy? Nein, nur eine Infektion.«
    »Es ist also keine Meningitis?«
    »Natürlich nicht. Diese Idee kannst du getrost vergessen. Er hat eine Schnittwunde unterhalb der Schulter, die sich entzündet hat. Ich habe ihm eine Spritze gegeben und ein paar Tabletten.«
    »Das heißt … dass ich Sie noch rechtzeitig geholt habe?«
    »Das hast du, Shell, sogar mehr als rechtzeitig. Er wird wieder gesund werden wie ein Fisch im Wasser. Aber ich bin froh, dass wir nicht länger gewartet haben. Er hatte Fieber. Die Wunde muss schon ein paar Tage alt sein. Hattest du sie nicht bemerkt?«
    Shell schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor, habe ich nicht.« Ein paar Tage. Er war schon seit Tagen verletzt und sie hatte nichts davon gewusst? Shell senkte den Kopf. O Jesus. Sie musste an die vielen Male denken, die sie Jimmy geschlagen hatte, an die Wut, die sie ihm gegenüber empfunden hatte und die er nicht verstand. O Jesus, vergib mir meinen Mangel an Liebe.
    »Du konntest es nicht bemerken, Shell«, sagte Dr. Fallon. Seine Stimme hatte sich verändert, das Kratzen darin war verschwunden. »Aber ich würde gerne kurz mit deinem Vater sprechen.«
    »Er ist oben im Bett, Herr Doktor. Er hat sich wieder hingelegt. Nachdem er mich zu Ihnen geschickt hat, meine ich.«
    Der Arzt trat in die Diele hinaus. Shell hörte, wie er die Tür zu Dads Zimmer öffnete. Als er zurückkam, spielte eine Falte um seine Nase. »Verstehe«, sagte er. Er musterte eindringlich erst Shell und dann Trix, die am Daumen nuckelte, etwas, was sie sich seit Beginn ihrer Schwierigkeiten wieder angewöhnt hatte. »Ich verstehe.« Er griff nach seiner Tasche. »Sorg dafür, dass Jimmy immer zum Essen eine Tablette bekommt. Dreimal am Tag. Und sieh zu, dass du aus den nassen Sachen herauskommst.« Er schüttelte den Kopf und warf einen Blick Richtung Küche, als würde es dort stinken. »Alles Gute«, sagte er und ging.
    Shell brachte Trix wieder ins Bett. Dann tappte sie hinüber zu Jimmy. »Bist du wach, Jimmy?«
    Er schlug die Augen auf.
    »Tut es weh?«, flüsterte sie.
    Er nickte. »Ein kleines bisschen.«
    »Darf ich mal gucken?«
    Er pellte den Arm behutsam aus dem Schlafanzugoberteil. »Es hat wie wild gebrannt, als er drübergewischt hat«, sagte er.
    Eine üble Schnittwunde von einigen Millimetern Länge klaffte etwa auf der

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