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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Wedeln seiner rechten Hand, und stolperte wieder hinaus in die Nacht. Vom Torpfosten war ein Geräusch zu hören, wie das Husten einer Ziege. Sie kannte das schon.
    Shell schloss die Tür, ohne sie jedoch abzusperren, und räumte den Besen weg. Sie deckte die restlichen Scones auf dem Kuchengitter mit einem Geschirrtuch ab. Dann verschwand sie in ihr Zimmer. Jimmy und Trix schliefen bereits. Vorsichtig legte sie den unteren Riegel vor, zog ihr Nachthemd an und schlüpfte unter die Bettdecke. Sie rollte sich zusammen und lauschte auf den Rhythmus der atmenden Finsternis. Nach kurzer Zeit sah sie nur noch Regenbogen und leuchtende Blitze vor sich. Nora Canterville rutschte statt Angie Goodie die farbigen Bogen hinab und hielt dabei eine dampfende Suppenterrine in den Händen. Pater Rose kutschierte Isebel über den Rand der Steilklippe in den Himmel hinein. Und Declan zerrte Shell am Arm hinauf in Duggans Feld. Würdest du, Shell, oder würdest du nicht? Sie schlief ein.

Zwölf
    Mitten in der Nacht erwachte sie davon, dass Jimmy stöhnte. Sie machte das Licht an und sah seine Arme und Beine, die sich in den Betttüchern verheddert hatten, seine Haut glänzte von Schweiß, sein Gesicht war rot-weiß gefleckt.
    »Jimmy«, flüsterte sie.
    »Es pocht wie verrückt«, sagte er.
    Sie berührte seine Stirn und er wimmerte. »Wo denn? Da?«, sagte sie.
    Er antwortete nicht, sondern ruderte mit den Armen, als wäre ihm sein Schlafanzugoberteil zu eng. Trix bewegte sich im Schlaf. Jimmy stöhnte wieder.
    Shell hatte ihn noch nie so elend gesehen. Jimmy war oft kränklich. Dad war der Meinung, es liege nur daran, dass er Aufmerksamkeit wolle. Aber in dieser Nacht musste Shell an Michael Rose denken, den Bruder des Paters, der an einer Grippe im Hirn gestorben war.
    »Vielleicht hast du Meningitis«, sagte sie.
    Jimmy begann zu brüllen wie verrückt.
    Panik ergriff Shell. Es war noch nie vorgekommen, dass sie sich mitten in der Nacht mit einer Krankheit herumschlagen musste. Sie besaßen ein Telefon, aber Dad hatte ihnen verboten es zu benutzen. Es stand neben seinem Bett, in seinem Zimmer, das hinter der Küche lag. Dort durfte niemand hinein.
    »Warte, Jimmy. Ich gehe rasch zu Dr. Fallon«, sagte sie. Sie schob den Türriegel beiseite, lief in die Küche, zog in Windeseile ihre Schuhe über und rannte hinaus in die Nacht. Noch immer nieselte es ununterbrochen. Schon kurz darauf war ihr Nachthemd völlig durchweicht. Shell nahm die Abkürzung über die Felder ins Dorf.
    Die Nacht war finster und fürchterlich. Wolken verdeckten den Mond. In den Hecken wimmelte und flatterte es. Sie trat in ein Kaninchenloch und schrammte sich am Gestrüpp des Dickichts. In ihrem Kopf jagten die Worte von Pater Rose unaufhörlich im Kreis herum: Wir brachten ihn nicht rechtzeitig zum Arzt, wir brachten ihn nicht rechtzeitig zum Arzt … Die Bäume des Wäldchens erzitterten vor seltsamen Lauten. Im Unterholz tauchten Augen auf wie Teufel. »Jesus, mein Gott!«, schrie Shell atemlos. Die Augen verschwanden. Etwas hinter ihrem Rücken huschte davon, ein Raubvogel stieg flatternd auf, dann lagen die letzten Bäume hinter ihr, es ging hinunter zum Feld. Der Mond kam hervor.
    Coolbar tauchte vor ihr auf, während sie den Hang hinuntereilte. Shell hielt sich die Seite, bemerkte im Stolpern das Stechen, atmete heftig und schnell. Dr. Fallons Haus lang ganz in der Nähe, am oberen Ende des Dorfes. Shell betätigte den Türklopfer. »Bitte mach, dass er es hört«, keuchte sie und klopfte ein zweites Mal. Sie krümmte sich, vor ihren geschlossenen Augen flimmerten gelbe Streifen.
    Urplötzlich öffnete sich die Tür. Der Arzt trat heraus, ehe sie sich wieder aufrichten konnte. »Wehe, es ist nicht mindestens ein Blinddarm«, murrte er. An seiner Miene war abzulesen, dass sie ihn aus dem Schlaf geholt hatte. Seine Lippen waren schmal und verkniffen.
    »Es geht nicht um mich, Doktor«, keuchte sie und richtete sich auf. »Es geht um Jimmy. Es geht ihm furchtbar schlecht.«
    »Dein Vater schickt dich, ja?«
    Sie nickte.
    »Hätte er nicht anrufen können? Was sind das für Verhältnisse!«
    Shell blickte an sich herunter. Ihr Nachthemd war hinüber. Sie war verdreckt, zerkratzt und nass bis auf die Haut. Shell, hörte sie Mum sagen. Du bist das Wrack der Hesperus.
    »Es war kaputt«, sagte sie und fing an zu weinen. »Das Telefon.«
    »Schon gut, Shell. Keine Panik. Ich hole meine Tasche.«
    Kurz darauf fuhren sie zusammen über die gewundenen Straßen

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