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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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das nicht. Fast wären ihr die üblichen Vorwürfe lieber gewesen. Möglicherweise hatte Dad sich bei Jimmy ein bisschen angesteckt, was immer es auch war.
    »Ach Shell, ich bin ein enttäuschter Mann.« Er erhob sich mühsam und starrte sie an. »Mach mir eine Tasse Tee, sei doch so gut.«
    Sie setzte den Kessel auf und wärmte die Teekanne vor.
    »Ein enttäuschter Mann.«
    Sie stellte die Tasse vor ihn hin. »Weshalb denn?«, fragte sie und reichte ihm den Zucker.
    Dad füllte drei Löffel in die Tasse, pustete, um den Tee abzukühlen, und rülpste. Er roch stark nach Bier.
    »Ich denke, du bist alt genug, um es zu wissen. Ich war heute Abend auf Brautschau, Shell.«
    Shell starrte ihn an. Auf Brautschau?, dachte sie. Er? Er ist nicht ganz bei Trost.
    »Ich habe eine Bekannte gefragt, ob sie mit mir spazieren geht.«
    Shell überlegte, wen er wohl meinte.
    »Sie hatte mich immer angelächelt und mir einen guten Tag gewünscht. Ich dachte, wir verstehen uns.« Er schüttelte den Kopf, mit einer Mischung aus einem Lächeln und einer Grimasse. »Ihr hättet euch über eine neue Mutter doch gefreut, oder, Shell? Du, Trix und Jimmy? Deswegen habe ich es getan. Für euch.«
    Shell zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, Dad. Es ist doch alles gut, so wie es ist.« Sie nahm zwei Scones vom Kuchengitter und servierte sie ihm auf Mums Lieblingsteller, einem zierlichen aus Porzellan, der mit Enten und Schilf bemalt war. Dad aß den ersten, stopfte ihn sich in einem Stück in den Mund. Die Krümel rieselten ihm von den Lippen auf das Revers seiner Jacke und die Krawatte hinunter.
    »Und dann?«, ermunterte ihn Shell.
    Er schluckte den letzten Bissen runter und machte sich über den zweiten Scone her. Seine Augen trübten sich ein und seine Hand begann zu zittern.
    »Was ist passiert, Dad? Ist sie denn nun mit dir spazieren gegangen?«
    »Ist sie nicht«, sagte er. »Sie hat Nein gesagt.«
    »Wer denn, Dad? Wer hat Nein gesagt?«
    Er starrte Shell an, als wäre sie schwer von Begriff. »Das habe ich doch gerade erzählt. Nora natürlich, wer denn sonst?«
    »Nora? Nora Canterville? Die Haushälterin vom Pastor?«
    »Sie verführt mich schon seit Monaten mit ihren leckeren Kuchen und ihrer Marmelade. Sie ist die beste Köchin in der ganzen Grafschaft, weißt du.« Er schüttelte den Kopf. »Und nun weist sie mich ab.« Seine Faust sauste auf den Tisch herab, so dass die Teller in die Höhe sprangen und die Teetasse schepperte. »Sie weist mich verdammt noch mal ab!«
    Shell wich einen Schritt zurück.
    »Mr Talent«, sagte er und imitierte dabei Noras kultivierten Akzent, aus der Gegend zwei Grafschaften weiter östlich. »Es ist mir eine große Ehre, dass Sie fragen, aber ich würde es vorziehen, im Haus zu bleiben, wenn Sie gestatten. An diesen regnerischen Abenden unterhalten wir ein großes Feuer im Salon, um die Kälte zu vertreiben, und ich bin froh nicht hinauszumüssen. Dies hier ist mein gemütliches Zuhause.«
    Shell dachte an Nora Canterville mit den festen Locken, die ihr mit Hilfe einer Dauerwelle dicht am Kopf klebten, an ihr komisches Kostüm aus grober Wolle, an ihre dicken hautfarbenen Strümpfe. Dann musste sie an Mum denken, in ihrem rosafarbenen schimmernden Kleid, an ihre langen schlanken Beine, ihr Haar, glänzend wie frisch gewaschene Kastanien, wie sie morgens bei der Hausarbeit vor sich hin gesungen hatte. Dad musste verrückt geworden sein.
    »Aber Dad«, sagte Shell. »Sie ist nicht mal hübsch. Nicht so, wie Mum war.«
    Er sprang von seinem Stuhl auf und packte Shells Arm so plötzlich, dass ihr keine Zeit blieb auszuweichen. Der Porzellanteller flog durch die Luft und zerschellte am Boden. »Halt den Mund, Shell«, knurrte er drohend. Seine Lippen zogen sich zurück Richtung Ohren, er bleckte die gelben Zähne mit den Krümeln, die in den Zwischenräumen klemmten. »Keinen Mucks sagst du.« Er umklammerte ihr Handgelenk und presste es fest zusammen. »Hast du gehört. Kei – nen – Mucks – sagst – du!« Jede Silbe war ein erregtes, betrunkenes Zischen, sein Gesicht beugte sich über sie und kam mit jeder Sekunde näher.
    Sie riss ihre Hand los und griff nach dem Besen. »Nein, Dad«, sagte sie. »Ganz bestimmt nicht.« Polternd ließ sie die Besenborsten über den Boden wirbeln, fegte die Scherben des Tellers und die Hinterlassenschaften seiner Mahlzeit zusammen. »Mach dir keine Sorgen, Dad.« Schwankend musterte er sie bei der Arbeit. Dann salutierte er plötzlich vor ihr, ein kleines

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