Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
Vom Netzwerk:
Fußwaschung in der Gemeinde von Coolbar zelebriert worden. Im Vorbeigehen hörte Shell, wie Mrs McGrath ihrer Nachbarin gut hörbar zuflüsterte: »Das ist protestantisches Gedankengut!« Doch Shell war davon überzeugt, dass Jesus, der wahre Jesus, ihr die Füße gewaschen hatte. Er war in der Gestalt von Pater Rose zu ihren verkümmerten Seelen zurückgekehrt. Er war in seiner Liebe gekommen, um jeden Einzelnen von sich selbst zu erlösen.

Fünfzehn
    Am nächsten Tag, dem Karfreitag, fand um drei Uhr die Kreuzwegandacht statt.
    Pater Carroll, Pater Rose und Declan Ronan, der wieder Messdiener war, trugen das Kreuz feierlich durch die Kirche. Nach jeder der vierzehn Stationen sang die Gemeinde eine andere Strophe:
Christi Mutter stand mit Schmerzen
bei dem Kreuz und weint’ von Herzen,
als ihr lieber Sohn da hing.
    Nach der fünften Station, wo Simon von Kyrene Jesus hilft das Kreuz zu tragen, wandte sich die gesamte Gemeinde den Stationen zu, die hinten an der Wand aufgehängt worden waren. Shell bemerkte, das Bridie Quinn direkt hinter ihr saß. Ihre Blicke begegneten sich. Bridies Nasenlöcher blähten sich. Sie zeigte ihre Zähne. Aus ihren Augen sprach Gehässigkeit. Shells Lippen formten lautlos eine Entschuldigung, aber Bridie starrte sie nur böse an, also griff Shell nach ihrer kleinen taubenblauen Häkeltasche, ein Geschenk von Mum zu ihrer Erstkommunion. Sie kramte eine Einkaufsliste heraus, die sie auf die Rückseite eines Briefumschlages gekritzelt hatte, und einen Bleistiftstummel. Entschuldige, Bridie, schrieb sie. Bei Gott, ich wusste nicht, dass du mit ihm gehst.
    Sie steckte Bridie den Zettel zu, als niemand hinsah. Bridie las ihn, runzelte die Stirn und schob ihn zurück. Dann griff sie wieder danach und bedeutete Shell, ihr den Bleistift zu geben. Shell gab ihn ihr, während sie auf die klagenden Frauen Jerusalems zugingen. Bridie schrieb etwas auf die Rückseite der Einkaufsliste, langsam und mit Nachdruck, und gab sie ihr zurück. Sie deutete mit einem Kopfnicken zu Declan hinüber. In diesen Klamotten bringt er selbst einen Hund zum Kotzen, stand dort in großen, krakeligen Buchstaben. Du kannst ihn haben, Shell, und den BH dazu.
    Eine große Träne trat Bridie ins Auge. Sie wirkte blass und abgespannt. Mit dem Kopf deutete sie Richtung Altar, dann tat sie so, als müsse sie sich übergeben. Entschuldige, wiederholte Shell lautlos. Sie streckte einen Arm aus, um Bridies Handgelenk zu berühren, aber Bridie zog eine Grimasse und schüttelte sie ab. Dads Hand legte sich auf Shells Schulter. Sie schob den Zettel ins Gesangbuch und begann eilig zu beten.
    Als alle Stationen durchlaufen waren, hielt Pater Carroll eine Predigt über die Qualen Jesu. Pater Rose saß daneben, sein Gesicht wirkte verschlossen und geistig entrückt. Ob er in Gedanken wohl beim Kreuz war, überlegte Shell. Oder bei seinem Bruder Michael, damals als Kind? Oder wieder in dem Wagen, mit ihr, als sie zusammen auf die Regenbogenbucht hinuntergeschaut hatten?
    Eine plötzliche Bewegung neben Pater Rose riss sie aus ihren Gedanken. Es war Declan. Er zwinkerte ihr halb zu, mit gefalteten Händen, als würde er beten. Lediglich seine beiden Zeigefinger zappelten, wie zwei ineinander verschlungene fette Würmer. Zwei nackte Körper in Duggans Feld. Als er merkte, dass sie ihn ansah, ließ er seine Zunge ein wenig hervorschnellen, ein weiterer fetter Wurm, und bewegte sie auf und ab.
    Die Würmer, die er zum Zappeln brachte, mussten wohl irgendwie in ihren Körper geraten sein.
    Der lange Gottesdienst endete mit Jesu Grablegung. Alle schritten nach vorn zu den Kommunionbänken, um das echte Kreuz zu küssen. Als die heilige Helena das Kreuz Christi gefunden hatte, erklärte ihnen Pater Carroll, wurde es zu kleinen Spänen zerstoßen, damit jede Gemeinde auf der Welt ein paar von ihnen bekommen konnte. In Coolbar wurde das Teilchen – kaum mehr als ein Staubkorn – in einer Glaskugel aufbewahrt, die auf einem Kruzifix aus Messing saß. Es sei dort, versicherte er ihnen, allerdings so klein, dass man es nicht sehen könne. Die Leute von Coolbar stellten sich an, um die Glaskugel zu küssen. Nach jedem Kuss wischte der Priester sie wieder sauber und trug sie an die Lippen des Nächsten. Im Abstand von etwa fünf Leuten übernahm Pater Rose die Aufgabe, dann wieder Pater Carroll.
    Shell betete, bei Pater Rose dranzukommen. Er nahm Pater Carroll das Kreuz aus den Händen, als nur noch zwei vor ihr in der Reihe standen. Doch in

Weitere Kostenlose Bücher