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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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dem Moment, als sie vortrat, nahm Pater Carroll das Kruzifix wieder an sich und hielt es ihr hin.
    Shell küsste die Kugel in der Erwartung, dass irgendetwas Heiliges sie überkommen würde. Nichts geschah.
    Wenig später war der Gottesdienst beendet und sie verließen die Kirche. Jesus war gestorben, doch kein Unwetter brach los. Die Toten erhoben sich nicht und erschienen nicht in großer Zahl. Stattdessen umfing sie ein stiller Abend mit trübem Regen. Dad schoss davon, um ein oder zwei Dinge zu erledigen, wie er sagte. Er eilte die Straße entlang Richtung Kneipe. Shell sah, wie Bridie den Hang hinaufflüchtete, den Regen aus ihren Haaren schüttelte und ihren durchsichtigen Schirm aufspannte. Fast wäre sie ihr hinterhergerannt, um sich mit ihr zu versöhnen, aber hinter ihr tauchte Declan Ronan auf und hielt sie an ihrem Pferdeschwanz zurück.
    »Shell«, sagte er. »Liebe Shell.« Seine Finger kitzelten ihren Nacken.
    »Was willst du denn jetzt?«, fragte Shell.
    »Ich habe gemerkt, wie du mich in der Kirche angesehen hast«, sagte er frech.
    »Hau ab.«
    »Ich hab’s gesehen. Du hast rübergestarrt.«
    »Hab ich nicht.«
    »O doch. Gestiert und gestarrt. Entweder zu mir oder zu Pater Rose.«
    »Hör auf.« Sie griff nach Trix’ Hand und begann sie den Hang hinunterzuziehen. Jimmy lief hinterher. »Du fantasierst, Declan.«
    »Tu ich das?« Er wich nicht von ihrer Seite.
    »Das tust du.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. Er trug das Chorhemd zusammengefaltet über dem Arm und grinste sie an. Seine Hand schnellte vor und kniff sie in die Wange.
    »Heute ist ein heiliger Tag, Declan.«
    Er brach in schallendes Gelächter aus. »Dieser ganze Kram ist doch nichts anderes als massenweise sublimierte Sexualität.«
    »Hör nicht hin, Trix. Was er da redet, ist Gotteslästerung.«
    Declan packte sie am Kragen, damit sie stehen blieb. Er beugte sich zu ihr und flüsterte in ihr Ohr: »Shell. Sei nicht böse. Komm zu mir in Duggans Feld, ja? Morgens, irgendwann in den nächsten Tagen. Nur für einen Kuss. Einen Kuss, so wie neulich.«
    Wieder spürte sie die zappelnden Würmer in ihrem Körper.
    »Ich warte auf dich«, beschwor er sie. »Am Ostermorgen in der Frühe. Egal wie lange es dauert.«
    »Du bist verrückt, Declan Ronan.«
    »Und du bist eine wandelnde Sexbombe, Shell Talent.«
    Sie versetzte ihm einen Rippenstoß und Trix sprang ihm auf den Rücken, aber er entwand nur lachend seinen langen, schlaksigen Körper und schritt davon, Richtung Allee.
    »Winke, winke!«, rief er.
    »Tscha-hau!«, brüllte Trix.
    »Pscht, ihr zwei«, sagte Shell, obwohl sie unwillkürlich lächeln musste.
    Auf ihrem Weg durchs Dorf hielt Mrs Duggan am Straßenrand. Ihre beiden Söhne starrten vom Rücksitz nach draußen und schnitten Jimmy Grimassen.
    »Shell«, rief Mrs Duggan. »Ist euer Vater bei euch?«
    »Er hat ein paar Dinge zu erledigen, Mrs Duggan.«
    »Jetzt gerade?«
    Shell nickte.
    »Dann zwängt euch rein, ihr drei, dass ihr aus dem Regen rauskommt. John und Liam, rückt dahinten mal zusammen und macht Platz. Ihr könnt Tee bei mir trinken, wenn ihr wollt. Ich habe Obstkuchen gemacht.«
    Sie fuhr mit ihnen hinüber zum Hof der Duggans. Früher, als Dad noch dort gearbeitet hatte, waren Trix und Jimmy oft zum Spielen da gewesen. Seit er die Arbeit aufgegeben hatte, kam es seltener vor, doch in den Schulferien gingen sie immer noch hin. Mrs Duggan war Mums beste Freundin gewesen, bereits seit ihrer Jugendzeit. Es gab ein Foto, auf dem die beiden achtzehn waren, in schmal geschnittenen Kleidern aus den Sechzigern, bei einer Tanzveranstaltung in Castlerock.
    »Dr. Fallon hat mir erzählt, dass du krank warst, Jimmy?«
    Jimmy schob seinen Ärmel hoch, um die Schnittwunde zu zeigen; inzwischen war es ein dunkler, dünner Strich, die Rötung war verschwunden.
    Sie streichelte und wuschelte ihm über den Kopf und gab ihm ein Extrastück vom Obstkuchen.
    Später half Shell beim Abräumen. Mr Duggan nahm die beiden Kleinen mit nach draußen, damit sie beim Füttern der Kälber halfen.
    »Shell«, sagte Mrs Duggan, während sie die Teller abtrockneten. »Du wirst deiner Mum von Tag zu Tag ähnlicher.«
    Die Worte waren gut und traurig zugleich, wie der Geschmack jener bitteren Limonade, die Pater Rose ihr bei ihrem Besuch gegeben hatte. »Wirklich, Mrs Duggan?«
    »Ja, jetzt, wo deine Figur langsam zur Geltung kommt, und mit deiner Haarfarbe. Du hast genau denselben Mund, nur deine Augen sind anders. Heller als die deiner

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