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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Mutter, würde ich sagen.«
    Als die Arbeit getan war, lieh Mrs Duggan Shell ihr Fahrrad, damit sie zum Strand hinunterfahren konnte. Shell radelte durch die stillen Straßen. Nach kurzer Zeit war sie draußen auf der Ziegeninsel, vor ihr lag der Atlantik. Außer ihr war niemand dort. An den Klippen verwehte der Sand, warf im Wind immer wieder neue Falten. Die Uferlinie schlängelte sich entlang der See, die flach und ruhig dalag wie ein Pfannkuchen. Shell zog Schuhe und Strümpfe aus, sie kam sich vor wie ein Kind, und steckte den Rocksaum in ihren Slip. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen, während sie hineinwatete. Das Meer macht Spiegel auf dem Sand, die mein Fuß zertritt, murmelte sie vor sich hin. Es war der Anfang eines Liedes, das sie und Mum sich zusammen ausgedacht hatten, vor langer Zeit. Shell blinzelte in die sinkende Sonne und sah eine Gestalt, wie die Flamme einer Kerze, die sich von ihr wegbewegte. Sie sah aus wie Mum, die einen ihrer heiß geliebten einsamen Strandspaziergänge unternahm. War das nicht ihr olivgrüner Schal, den sie sich über die Ohren gezogen hatte? Die Hand hatte sie tief in den Manteltaschen vergraben, den Kopf wie immer im Wind gesenkt. Shell kniff die Augen zusammen. Die Gestalt verschwand.
    Shells Herz steckte in einem violetten Futteral.
    Wenn Jesus stirbt, dachte sie, ist es ein bisschen so, als ob man selber stirbt.

Sechzehn
    Der Ostersamstag war ein Tag des Stillstands. Das Grab war verschlossen, die Welt schwieg.
    Trix und Jimmy liefen mit Shell über die Felder, sie hatten ihre Schaufeln dabei, rot und blau. Auf der Wiese am Hang pflückten sie die Narzissen und sammelten sie in Jimmys Eimer. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baum und schauten auf die wabernden Rauchschwaden von Coolbar, weißer Rauch vor weißem Himmel. Die Lämmer blökten und sprangen umher. Unter dem Baumstamm entdeckte Jimmy Larven. Er sammelte sie mit seiner Schaufel auf und trug sie den Hang hinunter, mit wedelnden Armen.
    »Wo willst du denn hin?«, rief Shell.
    »Ich bin ein Flugzeug. Wir fliegen nach Amerika!«
    Trix übte balancieren.
    Dad kam den ganzen Tag nicht aus seinem Zimmer. Seit den Stationen hatten sie ihn nicht mehr gesehen, wodurch ihnen ganz leicht ums Herz wurde.
    Der lange Tag verstrich.
    Trix und Jimmy hatten von Mrs Duggan eine zweite Torte fürs Abendbrot bekommen. Shell wollte bis zur Auferstehung Jesu fasten. Sie war entschlossen die ganze Nacht über zu wachen, zu warten und zu beten. Weil sie nichts Besseres zum Anziehen hatte, riskierte sie es, Mums nahtloses rosafarbenes Kleid noch einmal anzuziehen. Die Haare band sie mit einem hübschen grünen Band zurück.
    Als Trix und Jimmy bereits im Bett waren, hörte sie, wie sich in Dads Zimmer etwas regte, eine knarrende Diele, ein Fluchen. Shell flüchtete so schnell wie möglich nach draußen und versteckte sich hinter dem Steinhaufen auf dem Acker hinter dem Haus.
    Gerade rechtzeitig: Er trat vor die Tür, mit hängenden Hosenträgern und nacktem Oberkörper. Sein Gesichtsausdruck schien zu sagen: Wo ist mein Abendessen? Ein- oder zweimal brüllte er ihren Namen, dann gab er auf und ging hinein. Sie wartete. Zwanzig Minuten später tauchte er wieder auf, diesmal trug er ein frisches Hemd und das Jackett seines zweitbesten Anzugs. Er ging die Straße hinunter, mit klimpernden Münzen in der Tasche.
    Als er nicht mehr zu sehen war, atmete Shell erleichtert aus. Sie blieb oben auf dem Hügel sitzen und blickte auf den flachen grauen Bungalow hinunter, der immer schon ihr Zuhause gewesen war. Früher irgendwann einmal hatte Dad versprochen ein zweites Stockwerk zu bauen. Doch daraus war nie etwas geworden. Über dem bewaldeten Horizont stieg langsam der Mond auf, wie eine perfekt geformte Pusteblume. Shell gähnte. Sie war seit dem frühen Morgen auf den Beinen gewesen, hatte unzählige Dinge erledigt. Ich lege mich nur eine Stunde hin, dachte sie.
    Als sie das Zimmer betrat, schliefen Trix und Jimmy bereits tief und fest. Shell legte sich in ihrem rosafarbenen Kleid auf ihr Bett und schlief, ohne es zu wollen, ein …
    … In ihrem Traum befand sie sich im Dorf. Es war fast nichts zu hören. Sie schlich zwischen den Häusern umher, sah hier und da einen Lichtstrahl, der zwischen Vorhängen auf die Straße fiel. Die Dachvorsprünge waren schief und verbogene Fernsehantennen stachen in die schnellen Wolken der stürmischen Nacht. Shell warf einen verstohlenen Blick durch das Fenster der Kneipe. Dad und Mr McGrath

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