Ein reiner Schrei (German Edition)
saßen dort, zusammen mit Pater Carroll, der gerade versuchte der kaputten Jukebox ein Lebenszeichen zu entlocken. Tom Stack, der Barkeeper, war am Bierzapfen. Am Kaminfeuer schliefen drei ineinander verschlungene Hunde.
Shell versuchte die Kirchentür zu öffnen. Es war abgeschlossen. Sie setzte sich vor das Portal und wartete, worauf, wusste sie selber nicht. Die Versuchungen des Teufels überkamen sie, während sie dort saß. Ehe sie wusste, was sie eigentlich tat, lief sie bereits die Straße hinauf, die Allee entlang, die zu dem großen rosafarbenen Haus der Ronans führte. Sie klopfte an die Tür. Declan öffnete und nahm sie mit, um die Nacht draußen im Freien zu verbringen. Seine Hand war knochig und hart, seine heimtückische Zunge war in ihrem Ohr, zwischen ihnen lagen in einem einzigen Durcheinander ihre Kleider. Sie und Declan wälzten sich die Stranddünen hinauf bis zum Gipfel des Berges und auf der anderen Seite wieder hinunter. Doch oben auf der Bergkuppe näherte sich von dem kleinen Wald Pater Rose. Declan löste sich in Luft auf. Shell war wieder hübsch und ordentlich, trug ihr rosafarbenes Kleid und das grüne Haarband. Er kam und setzte sich neben sie, während sie gerade ihre Nachtwache hielt. Sie saßen wieder auf dem umgestürzten Baum, wo Shell mit Trix und Jimmy schon gesessen hatte. Kein einziger Muskel bewegte sich, kein einziges Wort fiel. Sogar die Larven schliefen. Doch zwischen ihnen pulsierte Liebe, eine andere Liebe als die von Declan, eine Liebe, die über das Körperliche hinausging, eine Liebe, die man mit ins Grab nahm. Er vergoss Tränen, während er dort neben ihr saß. Shell betete, dass sie versiegen würden, doch er schüttelte nur den Kopf, als wollte er sagen: Shell – in seinem typischen Tonfall –, die Tränen gehören dazu, wusstest du das nicht? Die Nacht der Erwartung wurde zu hundert Nächten, aber mit ihm an ihrer Seite machte es Shell nichts aus. Zu dir seufzen wir, klangen ihr Pater Roses Worte im Ohr. Und sie erwiderte in Gedanken: Trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Zu warten war das Leben selbst. Sie erkannte das Verlockende der Erwartung, als hätte sie den Teig für die Scones gerührt, sie in den Ofen getan und nähme nun ihren immer stärker werdenden Duft wahr, während sie buken. Sie umschlang ihre Knie und schaute über die kreuz und quer herumstehenden Grabsteine hinüber zu jenem, der das Grab ihrer Mutter anzeigte. Die Morgendämmerung zog herauf. Nun waren die Grabsteine zu erkennen: Es wurde Zeit. Pater Rose und sie verließen ihren Platz der Nachtwache und betraten gemeinsam den Garten der dicht an dicht liegenden Gräber.
Pater Rose musste furchtbare Angst gelitten haben, so wie die Apostel. Er verschwand. Shell blieb allein zurück. Sie war Maria Magdalena, sie wartete.
Das Zwielicht war unheimlicher als die Dunkelheit. Am Grab ihrer Mutter blieb sie stehen. Die Inschrift war nicht zu erkennen, nur die Osterglocken, die sie im Herbst gepflanzt hatte, stachen als helle Flecken hervor.
Sie setzte sich nieder ins Gras und wartete noch eine Weile.
Von irgendwo oben auf dem Hügel erhob sich eine Stimme. Erst nur ein melodiöses Murmeln, wie Vogelgezwitscher. Dann wie Krähen in einem schwankenden Baum. Die Töne kamen nun aus der Nähe, drüben vom Portal der Kirche, formten sich zu menschlichem Gesang. Shell konnte die Worte nicht verstehen, sie hörte nur die Töne. Sie stiegen an und fielen, wie schimmernde Blasen, die ein Muster aus Schönheit woben. Sie waren so wunderbar, dass Shell am liebsten geweint hätte. Denn inzwischen hatte sie die Stimme erkannt. Es war Mums Stimme. Es kam ihr vor, als hätte sie sie seit Ewigkeiten nicht mehr singen hören. Sie lächelte und wurde plötzlich ganz ruhig, versuchte die Melodie wiederzuerkennen.
Eine Tür öffnete sich und der Gesang wurde lauter. Ihre Mutter kam über den Hof gelaufen und betrat das Haus, wie sie es in Shells Erinnerung unzählige Male getan hatte. Nun ist sie in der Küche, dachte sie. Ein Wasserhahn begann zu rauschen. Ein Besen klapperte über den Fußboden. Sang sie das Lied über das Mädchen, das einen Tag vor ihrer Hochzeit starb? Shell gab sich die größte Mühe, die Worte zu verstehen, doch sie entglitten ihr.
Lange Vokale hallten in Wellen durch die Tür zu ihr herein. Die Kadenzen kamen näher und näher, als käme ihre Mutter, um nachzusehen, ob bei ihr auch alles in Ordnung sei. Es war damals, als sie Fieber gehabt hatte, vor drei Jahren. Trix und
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