Ein reiner Schrei (German Edition)
Schule, an ihre verhauenen Klassenarbeiten. Sie grinste. »Sei nicht albern«, sagte sie. »Du bist doch derjenige, der immer alle Punkte kriegt.« Jeder wusste, dass Declan in seinem Abschlusszeugnis eine so hohe Punktzahl erreicht hatte, dass es zweimal fürs College reichte. Er hatte einen Studienplatz für Jura an der Uni gewonnen, sagte aber, dass er nicht hingehen würde, und die Meinung seiner Familie sei ihm ganz egal. Shell verstand seine Weigerung nicht. Sie fand, dass er einen guten Anwalt abgegeben hätte, mit seiner Schlagfertigkeit und immer auf seinen Vorteil bedacht.
»Okay, dann bist du nicht die Beste aus der ganzen Klasse. Du bist …«, er überlegte. »Du bist eine Klasse für sich.«
Sie lächelte. Er hielt immer noch ihre Hand. Sie beugte sich in den Wagen und drückte ihm einen raschen Kuss auf die Wange.
»Tschau-tschau«, sagte sie.
»Winke, winke«, sagte er.
»Sehen wir uns am Donnerstag?«
Er wandte den Blick ab, starrte durch die Windschutzscheibe und zog seine Hand zurück. Seine Lippen wurden schmal.
»Was ist, Declan? Donnerstag?«
Er ließ den Motor an. »Kann sein. Mal sehen.«
»Im Feld? Oder drüben auf der Ziegeninsel?«
»Weiß nicht.« Er löste die Handbremse. »Egal.« Der Wagen rollte an. »Hinter den Bergen, bei den Zwergen, Shell.«
»Also tschüs. Bis dann.«
Er nickte und zuckte mit den Schultern. Dann wendete er und fuhr davon. Sie sah seinen Blick im Rückspiegel kurz vor dem Abhang. Er winkte. »Bis dann, Shell. Au revoir!«, rief er durch das offene Fenster zurück. Die Worte blieben hinter ihm in den Hecken hängen und platzten dann wie Blasen, als der marineblaue Wagen mit Schrägheck ein letztes Mal aufblitzte und hinter einer Kurve verschwand. Das Letzte, was sie von ihm sah, war sein schwarzer Lockenkopf. Leicht zur Seite geneigt, wie eine Taube, die über den nächsten Schritt nachgrübelt.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Verrückter Kerl. Wieder eine Bewegung, ein Raunen, das sie durchzuckte. Wie ein Nachtfalter diesmal, der sich aus seinem Kokon herauswand, vorsichtig und zögernd. Sie griff sich an den Bauch, starrte wie blind auf die verlassene Straße hinab.
In diesem Moment wusste sie es.
Körperbuch hin oder her, Amenorrhö war es jedenfalls nicht.
In ihr wuchs ein Baby heran.
Sie wandte sich ab, lief den Hügel hinauf und kam zum Acker, ohne zu bemerken, wohin ihre Füße traten. Shell setzte einfach einen Fuß vor den anderen und lief für den Rest des Tages herum wie ein Roboter. Ihr Geist war nach innen gerichtet, auf das zappelnde Etwas in der Mitte ihres Körpers.
Am darauffolgenden Abend kam Jimmy mit Neuigkeiten von Seamus nach Hause, dem jüngeren Sohn der Ronans, der mit ihm in dieselbe Klasse ging. Mr und Mrs Ronan tobten vor Wut, denn an diesem Morgen hatten sie nach dem Aufstehen auf dem Küchentisch eine von Declan hingeschmierte Nachricht vorgefunden. Er sei unterwegs nach Amerika, schrieb er, die Familie und der Studienplatz hätten sich erledigt. Sein Freund Jerry Conlan habe ihm in Manhattan einen Job besorgt, mit dem er von jetzt auf gleich hundert Dollar am Tag verdienen könne, also brauche sich niemand um ihn zu sorgen. Als Nachtrag hatte er noch einen letzten Vers hinzugefügt:
Komme gerne jederzeit …
wenn’s im Juni heftig schneit.
Vierundzwanzig
Am Montag ging Shell wieder zum Unterricht und trug diesmal die Winteruniform. An den Stellen, an denen der Faltenrock im letzten Frühling noch zu weit gewesen war, spannte er inzwischen. Die Bluse passte ihr, aber nur, weil sie ihr vorher zwei Nummern zu groß gewesen war. Sie schloss die oberen Knöpfe ihrer Strickjacke und ließ die unteren offen, was ihr das Gefühl gab, schlanker zu wirken.
Auf dem Schulhof gesellte sich niemand zu ihr. Bridie Quinn war nirgends zu sehen. Declan war Tausende von Meilen entfernt.
Shell setzte sich hinter die Hütte und schloss ihre Augen, um den inneren Bildern freien Lauf zu lassen. Declan, der ihr auf dem Feld der Duggans im frühen, tief liegenden Morgennebel entgegenkam. Pater Rose, der ihr mit seinem Arm eine Brücke baute und sagte: Wir sind in Gottes Hand, Shell …
»Shell!« Sie hob den Kopf. Vor ihr stand Theresa Sheehy, das Mädchen, mit dem Bridie im letzten Schuljahr abgezogen war.
»Was ist?«
»Bist du dick geworden!«
»Bin ich nicht.«
»Bist du doch. Mindestens sechs Kilo.«
»Ach. Na und?«
»Du solltest eine Bananendiät machen. Die ist super. Da nimmt man in fünf Tagen fünf Pfund
Weitere Kostenlose Bücher