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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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mit den Armen, wie sie nur konnte. Sie tat alles, um nicht weiter nachzudenken. Das Taubheitsgefühl wanderte vom Kopf bis zu den Zehen hinunter.
    Sie machten eine Seetang-Schlacht und spielten Wellengleiten. Aber schon nach kurzer Zeit begannen sie zu frieren, gingen aus dem Wasser und legten sich zum Trocknen auf Declans Handtuch. Shell zog sich zitternd wieder an. Sie liefen zur Klippe hinüber und krochen durch einen Spalt, den nur die Leute aus der Umgebung kannten, in eine Höhle. Haggertys Höllenloch wurde sie genannt. Er kniff sie in den Po, als sie auf allen vieren vorankroch. Shell schrie auf.
    »Du bist wie ein brünstiges Mutterschaf«, sagte er.
    »Und du bist wie ein Stier, der mit den Hörnern irgendwo stecken bleibt, Declan.«
    »Wo denn?«
    »Weiß nicht. In einem Tor. Nein, in einem Dornbusch.«
    Er kniff sie wieder.
    Die letzten Gäste hatten vier Bierdosen und Zigarettenstummel hinterlassen.
    »Ich bin schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen«, sagte sie und richtete sich im stillen Halbdunkel auf. »Ich weiß noch, dass Mum sie mir damals gezeigt hat, als ich klein war.«
    »Wir Jungs brachten unsere Opfer immer zur Folterung hierher«, erinnerte sich Declan. »Mädchen. Weißt du noch?«
    »Nein. Ihr habt mich nie gefangen. Ich war immer zu schnell für euch.«
    »Das bist du immer noch.«
    »Hör auf. Du bist doch der Schnelle.« Shell erschauerte. »Was habt ihr denn mit ihnen gemacht, wenn ihr sie hierhergebracht hattet? Mit den gefangenen Mädchen, meine ich.«
    »Nicht viel. Wir fesselten sie und überließen sie der Willkür der Wellen. Wir nannten es die Abdeckerei.«
    »Abdeckerei? Was ist denn das?«
    »Na, du weißt schon. Wie ein Schlachthaus. Wo man kranke Tiere schlachtet.«
    »Igitt.« Bei dem Gedanken an totes Fleisch, das an Haken hing, begann Shells Magen zu zucken.
    »Und jetzt ist es der Platz, wo alle Mädchen zum Vögeln herkommen. Wusstest du das nicht?«
    Shell schüttelte den Kopf. Heißt das, dass du Bridie ebenfalls hierhergebracht hast?, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Sie schob den flüchtigen Gedanken beiseite und sah sich um. »Puh. Es ist enger, als ich es in Erinnerung habe. Kälter. Mum sagte, die Höhle sei wunderschön. Ein Ort, den Wind und Wetter über Tausende von Jahren oder mehr geformt haben. Sie hat ihre Lieder immer hier gesungen.«
    Sie setzte sich. Seetang quatschte, die schwarzen Luftpolster platzten unter ihr. Shell schlang die Arme um die Knie und begann das Lied zu singen, das Mum immer so geliebt hatte, das über den Schmied, der einen Brief schreibt, ein Versprechen abgibt und dann eine andere heiratet. Die Töne hallten zwischen den Wänden hin und her, kollidierten miteinander und verschmolzen zu herrlichen Dissonanzen.
    Mitten in der dritten Strophe unterbrach Declan sie mit einem stürmischen Kuss auf den Mund.
    Ehe sie etwas sagen konnte, fing er wieder an, ging aufs Ganze, seinen Kopf unter ihrem Kinn. Sie schloss die Augen fest, während die restlichen Töne ihr immer noch in den Ohren klangen. Sie sah sich wieder im Waschsalon, wo sie früher immer die Wäsche hingebracht hatte, und schaute zu, wie in der Trommel alles hin und her schwappte, durch den Schaum sprang und nach unten fiel. Im nächsten Moment war sie der Sperber, der hoch über dem Feld mit seinen Flügeln schlug, schwebend im Himmelsblau. Als er herabstieß, verwandelte er sich in die Brieftaube mit der flaumigen Halskrause, die über die Irische See flog und im Kielwasser einer zurückkehrenden Fähre immer wieder pfeilschnell den Sprühnebel durchquerte. Sie dachte an alles, Hauptsache nicht an jenes seltsame Zucken, das sie am Strand in sich gespürt hatte. Ich habe es mir eingebildet. Draußen murmelte das Meer, in der Ferne, voller Unruhe. Über ihrem Ohr landete monoton ein Wassertropfen nach dem anderen auf einem Felsvorsprung. Eine gähnende Leere überkam sie. Shell öffnete die Augen. Declans Locken pressten sich unterhalb von ihrer Schulter an sie, dahinter waren die Furchen der hubbeligen Wand. Mum, warum musstest du bloß sterben? Gedämpft und geheimnisvoll hörte sie das Läuten einer weit entfernten Glocke, die Kirche von Coolbar, die zum mittäglichen Angelusgebet rief. Einmal, zweimal, dreimal. Heilige Mutter Gottes, bete du mit uns, für uns zum Sohn. Was würde Dad wohl sagen, wenn er sie hier so sähe? Das Läuten wurde vom Wind davongetragen und kehrte dann wieder zurück. Sechsmal, siebenmal, achtmal. Dass er mächtig uns vertrete vor

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