Ein reiner Schrei (German Edition)
ab.«
»Und was isst man?«
»Bananen.«
»Sonst nichts?«
»Und gekochte Eier.«
»Igitt.« Schon bei dem Gedanken an gekochte Eier drehte sich ihr der Magen um. Sie aß seit Monaten keine Eier mehr, genau wie Mrs Duggan keinen Räucherlachs mehr vertrug.
»Ehrlich, es funktioniert«, sagte Theresa. »Ich hab’s ausprobiert.«
Shell zuckte mit den Schultern. »Hast du Bridie gesehen?«
»Sie spricht nicht mehr mit dir.«
»Ich weiß. Aber ist sie heute da?«
»Nee.«
»Wo ist sie?«
»Woher soll ich das wissen?«
»War sie letzte Woche da?«
»Spurlos verschwunden. Es heißt, dass sie zu ihrer Tante gezogen ist, nach Kilbran.« Theresa rückte näher. »Aber ich weiß es besser.«
»Was denn?«
»Im Sommer hat sie mir etwas erzählt, ein Geheimnis.«
»Was denn?«
»Sie meinte, sie würde von zu Hause weglaufen. Irland verlassen. Vielleicht ist sie schon fort.«
»Nein.«
»Es stimmt. Und weißt du, was ich glaube?«
»Was?«
»Sie und Declan.« Theresa Sheehy nickte, als wäre damit alles klar.
»Was ist mit ihnen?«
»Vielleicht sind sie weggelaufen. Zusammen.«
Shell starrte sie an. Sie schüttelte den Kopf. »Nach Amerika? Nein!«
»Warum nicht?«
»Sie haben doch schon vor Monaten Schluss gemacht. Bridie hat’s mir erzählt.«
Theresa setzte ein süffisantes Lächeln auf. »Das ist nicht der letzte Stand.«
»Wie meinst du das?«
»Sie sind wieder zusammengekommen. Im Sommer. Bei einer Tanzparty in Castlerock.«
Shell öffnete den Mund. Es kam kein Ton heraus.
»Ich habe sie gesehen. Auf der Tanzfläche. Wie sie rumgehopst sind und sich verrenkt haben. Wie zwei Katzen auf ’ner heißen Herdplatte.«
»Du lügst.«
»Tu ich nicht.« Theresa schüttelte den Kopf und blickte auf ihre lange rote Nase herab. »Ich weiß echt nicht, was ihr zwei an ihm gefunden habt. Dieser Schweinehund.«
Es läutete zum Unterricht.
Shell rührte sich nicht. Sie schaute zu, wie die rotbraunen Ameisen sich in langen Schlangen ins Schulgebäude drängten. Als der Pausenhof menschenleer war, stand sie auf und klopfte sich den Staub vom Rock. Dann lief sie hinüber zum Hintereingang, der eigentlich für Lieferfahrzeuge bestimmt war, und schlüpfte dort hinaus.
Sie ließ sich durch die Stadt treiben. An dem Pier, den die Bibliothekarin hinuntergelaufen war, blieb sie stehen, dann betrat sie ihn und schritt ganz bis ans Ende. Ein Pier ist eine enttäuschte Brücke, hatte Mum immer gesagt, denn damals waren sie ihn oft entlangspaziert, Hand in Hand. Eigentlich möchte er irgendwohin, aber er hat den Mut verloren.
Sie stellte sich Declan und Bridie vor, wie sie zusammen die Straßen von Manhattan hinabhüpften, zwischen Mülleimern und Wolkenkratzern, durchgeknallten Amerikanern, glänzenden Luxuslimousinen. Lichter blitzten auf, Sirenen heulten, die Großstadt pulsierte vor Leben. Sie waren fort, hatten Shell zurückgelassen. Vergessen. Eine Coladose rollte ihr vor die Füße. Sie zertrat sie, hob sie auf und schleuderte sie so weit hinaus ins Meer, wie sie nur konnte. Vielleicht ist es nicht wahr, dachte sie. Doch möglicherweise stimmte es tatsächlich. Bridie hatte immerzu davon geredet, dass sie sich eines Tages bis nach Hollywood durchschlagen würde, um dort ein Star zu werden. Mit ihrem dunkelblonden Haar hielt sie sich für eine Mischung aus Marilyn Monroe und Meryl Streep. Vielleicht hatte sie inzwischen halb Amerika durchquert, war auf dem Weg nach Kalifornien, dorthin, wo immerzu die Sonne schien. Demnächst würde Shell sie wohl als Mitwirkende in einem der Filme sehen, die in Castlerock im Kino liefen.
Die zertretene Dose tanzte ausgelassen auf dem Wasser, entfernte sich immer weiter von der Spitze des Landungsstegs, trieb hinaus aufs Wasser. Shell beugte sich über das Geländer und schaute ihr nach. Es würde eine Weile dauern, aber irgendwann würde sie schließlich die Hafenmündung erreichen und das offene Meer.
In diesem Moment wurde ihr klar, was sie zu tun hatte.
Fünfundzwanzig
Dad war an diesem Tag wieder in Cork, also hatte Shell freie Bahn. Sie nahm den Elfuhrbus von der Stadt nach Hause und packte die Reisetasche, die sie, Trix und Jimmy auf dem Acker zum Steinesammeln benutzt hatten. Shell stopfte ihre Jeans und die T-Shirts hinein, ihren Ersatz-BH – den alten, den Bridie ihr gestohlen hatte –, ihre Unterwäsche, ihr einziges Sonntagskleid. Sie schlüpfte aus ihrer Schuluniform und in Mums rosafarbenes Kleid, das sie seit Ostern nicht mehr getragen hatte.
Sie
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