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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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besaß keinen Pass, aber dort, wo sie hinwollte, brauchte sie auch keinen. Um sich notfalls ausweisen zu können, nahm sie ihre Busfahrkarte mit.
    Sie packte ein Sandwich und etwas zu trinken ein.
    Sie warf ihre Zahnbürste mit den verbogenen, abgenutzten Borsten hinein.
    Auch die kleine taubenblaue Häkeltasche, die Mum ihr für die Kirche geschenkt hat, wurde eingepackt.
    Shell prüfte das Gewicht der Reisetasche. »Federleicht«, sagte sie laut. Sie lächelte. Nicht wie die Steine auf dem Acker.
    Sie griff nach Nelly Quirke, dem Kuschelhund. Früher einmal hatte er ihr gehört. Mum hatte ihn ihr geschenkt, als sie noch klein gewesen war. Shell hätte schwören können sich noch zu erinnern, wie sie ihn an ihrem Geburtstag ausgepackt hatte, als Zweijährige. Nun gehörte er Trix, aber Shell spürte das Verlangen, ihn mitzunehmen. Zärtlich strich sie ihm über das abgekaute Ohr, streichelte die schwarze Stupsnase und die weichen weißen Schnurrhaare. Dann legte sie ihn in Trix’ Bett zurück, die Bettdecke hübsch um seinen Hals drapiert.
    Jetzt, da sie den Kniff kannte, ließ sich die Holzverkleidung des Klaviers ohne Probleme lösen. Shell griff nach der Teedose und nahm den ganzen Packen Scheine heraus. Sie zählte das Geld. Dann verstaute sie es in ihrer taubenblauen Messetasche und hängte sie sich ans Handgelenk.
    Shell setzte das Klavier wieder zusammen.
    Ein scharfer Windstoß fuhr durchs Haus, pfiff in der Regenrinne.
    Sollte sie eine Nachricht hinterlassen, wie Declan es getan hatte? Sie zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. Er war nach Westen gegangen, sie wollte nach Osten, und sie gingen aus unterschiedlichen Gründen.
    Sie trat aus dem Haus und schloss die Tür hinter sich, hielt den Schlüssel in ihrer Hand und hätte beinahe abgesperrt, als ihr Jimmy und Trix einfielen. Wenn niemand kam, um die beiden von der Schule abzuholen, würde irgendwer – wahrscheinlich ein Lehrer – sie nach Hause bringen. Es war für alle Beteiligten besser, die Tür offen zu lassen.
    Aber sie selbst würde keinen Schlüssel mehr brauchen. Shell ging wieder hinein und legte ihn auf den Küchentisch, was ebenso aussagekräftig war wie eine Nachricht. Sie legte ihn ordentlich in eins der marineblauen Quadrate der karierten Plastiktischdecke. Dann sah sie sich ein letztes Mal um.
    Der Kühlschrank stand offen. Shell war sich sicher, ihn wieder geschlossen zu haben, als sie den Käse, den sie fürs Sandwich gebraucht hatte, zurückgestellt hatte.
    Sie schloss ihn wieder.
    Verharrte reglos, lauschte.
    Der Kühlschrank sang seine Melodie, mit tiefer Brummstimme. Das Haus stützte sich auf sein Fundament. Da war ein Knarren, dann ein Tappen, wie eine Bodendiele, die heruntergedrückt wurde, oder eine Tür, die sich schloss. Shell hörte, wie sie atmete, wie das Blut in ihren Ohren rauschte.
    »Mum?«, sagte sie.
    Keine Antwort.
    Von irgendwo aus der Nähe ertönte ein heftiges Poltern. Shell erschauerte. Aus Dads Zimmer.
    Shell stürmte durch die Diele und riss die Tür zu seinem Zimmer auf. Die Vorhänge blähten sich.
    Auf Mums Schminkkommode war eine Flasche von Dads Aftershave umgefallen, das war alles.
    Shell atmete erleichtert auf, brachte alles in Ordnung und schloss das Fenster. Sie biss sich auf die Lippen. Die drei Spiegel bettelten sie an, Platz zu nehmen und ein letztes Ewigkeitsspiel zu spielen. Sie strich mit dem Finger über die Holzplatte, zog eine Spur im Staub. »Ich bin schon zu alt dafür«, sagte sie laut. Die Worte hallten zurück, ließen sie erschrocken zusammenzucken.
    Fluchtartig verließ sie den Raum und jagte durch die Diele zur Haustür, schlug sie hinter sich zu und stöhnte erleichtert auf. Was für ein Geist sich auch immer dort drinnen befand, er würde ihr nicht nach draußen folgen. Shell griff wieder nach der Reisetasche und schritt den Acker hinauf Richtung Wäldchen. Sie würde das Dorf weiträumig umgehen und dann auf der Hauptstraße einen Fernlaster anhalten, der sie mitnehmen konnte. Niemand würde erfahren, wohin sie verschwunden war. Sie dachte an Maria Magdalena, wie sie in Frankreich angekommen war, und stellte sich Dünen mit dem heulenden Wind und das kleine Kind vor, gezeugt von Jesus, das Mühe hatte, mit seiner Mutter Schritt zu halten, ihre Hand hielt. In ihrem Fall würde es kein kleines Kind geben. Sie würde in Fishguard Harbour ankommen, hinter sich die Möwen und Wellen, und sie würde nicht mehr zurückkehren. Als Erste würde sie in den Nachtzug nach

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