Ein reiner Schrei (German Edition)
wusch sich die Hände, damit niemand den Geruch an ihr bemerken würde. Dann lehnte sie sich in Dads Sessel zurück und atmete erleichtert auf. In ihren Gedanken lachte Bridie sie aus: Ich hab’s dir doch gesagt. Du bist so schwanger wie Mutter Teresa. Ihr Blick fiel auf den Kalender, der immer noch Mai anzeigte. Shell stand auf und blätterte vier Monate weiter bis zum September. Es war ein Bild von Jesus bei der Speisung auf dem Berg, wie er Brot und Fisch an die Menschenmenge verteilte. Sie hängte den Kalender zurück an die Wand und setzte sich lächelnd wieder hin, umschlang ihren Körper mit beiden Armen. Die dünne Nadel der Angst zog sich zurück in die hintersten Regionen ihres Bewusstseins, wie ein Regenwurm, der in der Erde verschwand.
Dreiundzwanzig
Der nächste Tag war ein Donnerstag. Shell hätte schon seit zwei Tagen wieder in die Schule gehen müssen, doch stattdessen schwänzte sie wieder, um sich oben auf dem Feld der Duggans mit Declan zu treffen. Dort erwartete sie ein Schock: Das Feld war gemäht worden und lag leer und offen vor ihr, von allen Seiten gut einsehbar. Von Declan fehlte jede Spur.
Sie setzte sich an den Rand des Wäldchens und wartete. Eine halbe Stunde verging. Shell pflückte eine Herbstaster und zupfte die Blütenblätter ab. Die langen Enden der Grashalme zerkratzten ihre Knie. Hätte sie doch nur ihr Buch vom Körper mitgebracht, um sich die Zeit zu vertreiben. Gerade als sie dachte, er würde nicht mehr kommen, war von der Straße das Hupen eines Wagens zu hören. Shell rannte über den Acker zum Gartentor. Declan saß im neuen französischen Schrägheckmodell seines Vaters.
»Springen Sie hinein, meine Dame«, sagte er und schwenkte seinen Arm.
Sie starrte ihn an. »Ich wusste gar nicht, dass du Auto fährst!«
»Seit letzten Monat habe ich den vorläufigen Führerschein«, sagte er. »Ich bin schon total oft mit dem Wagen unterwegs gewesen.«
»Und dein Vater … Weiß er davon?«
»Spring rein oder ich fahr ohne dich los.« Er langte herüber und öffnete die Beifahrertür.
Sie grinste und stieg ein. Die Sitze waren mit einem weichen grauen Stoff bespannt, die Kühlerhaube glänzte marineblau. Sie war so makellos und sauber, wie die von Pater Rose mitgenommen und matt gewirkt hatte. Declan drückte einen Schalter, um die Fenster herunterzulassen, und brauste davon. Der Wind peitschte Shells Haare, umwehte ihr Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, drehte sich in die Sonne und spürte, wie seine Hand sich auf ihr Knie legte und es drückte. Ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie rasten um die Kurve, als hinge ihr Leben davon ab.
Er nahm die kleineren Straßen zur Ziegeninsel, der felsigen Halbinsel, auf der die Schafe weideten. Über eine schmale, unbefestigte Straße steuerte er den Wagen zum verborgenen Strand: ein Streifen aus buntem Kies, der in der Mitte in feinen hellen Sand überging. Weiter hinten lagen vor einer bröckeligen Klippe überall verstreute Felsbrocken.
Die Herzmuschelfischer waren da gewesen und wieder fort. Die Schule hatte wieder angefangen, der Strand war menschenleer.
»Mal kurz reinspringen?«, sagte Declan und begann sich auszuziehen. Er hatte bereits die Hose abgestreift.
»Ich nicht«, sagte Shell. »Es ist zu kalt.«
»Komm schon. Bloß weil September ist, heißt das nicht, dass es schon eisig ist.«
Shell fröstelte. »Ich hab keinen Badeanzug mit.«
»Dann eben nackt. Ist doch niemand hier!«
»Ich tauch mal den Zeh rein.«
Declan lachte und schlug mit seinem T-Shirt nach ihr. Dann rannte er vom Wagen direkt in die Brandung hinein. Sie schaute zu, wie er in großen Sprüngen durchs flache Wasser platschte und huu-ha-ha-huu machte, wenn die Wellen an ihm hochschlugen. Shell applaudierte, als er mit einem Kopfsprung eintauchte.
Plötzlich schlug etwas in ihr Purzelbäume. Wie ein Blatt, das vom Baum fiel. Oder wie eine schwingende Gitarrensaite, die jemand angeschlagen hatte. Sie griff sich an den Bauch.
Was zum Teufel war das?
Declans Kopf tauchte auf. »Komm rein, Shell. Es ist fantastisch!«
Sie bekam keine Luft. Etwas zuckte unter ihren Händen. Allmächtiger. Was passiert mit mir?
Sie riss sich die Kleider vom Leib und rannte zum Meer hinunter, nackt. Sie schrie, als das kalte Wasser an ihr hochspritzte, und stürzte sich kopfüber in die Welle.
Ihre Kopfhaut brannte. Ihr Kiefer war wie Eis. Sie konnte nichts mehr fühlen.
Declan packte sie an den Fußgelenken und zog sie tiefer hinein. Sie ruderte so heftig
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