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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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des ew’gen Vaters Thron. Shell dachte an Mums Plattenspieler, wie die Nadel über die schwarzen Rillen der alten Langspielplatten gesprungen war, das Geknister zusammen mit der goldenen Stimme von John McCormack, Irlands legendärem Tenor. So begrabt mich auf dem Berge, mein Gesicht zur Sonne Gottes. Elfmal, zwölfmal. Ein plötzlicher, herzergreifender Höhepunkt, ein rascher reiner Schrei, ihre Mutter, die vor sich hin sang, den Ton immer höher hinaufschraubte bis zum höchsten, während sie die Kartoffeln schälte, die Wollsachen mit der Hand wusch, sich lächelnd nach Shell umsah und ihre Hände abwischte.
    Declans Fingerknöchel drückten sich in ihren Rücken. Der Plattenspieler und die Platten waren nicht mehr da. Dad hatte sie kurze Zeit nach Mums Tod verkauft. »Huu-ha-ha-huu«, wimmerte Declan, als hätte ihn eine weitere heftige Welle erwischt. Er rollte von ihr herunter, leise keuchend.
    Shell rührte sich nicht.
    »Gib mir eine Kippe, Shell«, sagte er nach einer Weile.
    Sie reichte ihm eine und sah zu, wie er sie anzündete und zu rauchen begann. Er bot ihr einen Zug an, aber Shell machte sich nichts mehr daraus. Während er qualmte, drückte er ihr nasses Haar.
    »Weißt du was, Shell?«, sagte er, mehr zum Deckengewölbe der Höhle als zu ihr.
    »Was?«
    »Diese Höhle. Haggertys Höllenloch. Es ist wirklich ein Höllenloch. Wie die ganze irische Insel.«
    »Meinst du?«
    »Meine ich. Das schwarze Loch von Kalkutta ist nichts dagegen. Ein Haufen Scheiße. Nur schlimmer.« Er drückte die Zigarette aus und zündete sich die nächste an. »Ganz Irland ist ein schwarzes Loch. Ein riesengroßes, verdammtes schwarzes Loch. Willst du mein neuestes Gedicht mal hören?« Ehe sie etwas erwidern konnte, begann er:
Schmeiß Munster aus dem Fenster,
Connacht schick ins Nirgendwo,
und Leinster samt den Limericks
spül getrost ins Klo.
    Er spuckte die Worte gegen die Wände, dass ihr eigenes Echo sie traf. »Was hältst du davon?«
    »Nicht schlecht, aber was ist mit der vierten irischen Provinz?«
    »Ulster? Ulster ist wie ein Magengeschwür. Eins mit Durchbruch. Zum Glück gehört Ulster nicht zu Irland. Die Briten können es gerne haben.«
    Shell kicherte. »In Derry würde man dich für solche Sprüche erschießen, Declan.«
    »Das spricht nur für ihre Blödheit.«
    »Was Irland betrifft, ist Coolbar doch gar nicht so schlecht«, sagte Shell und dachte an das Wäldchen, die Bergfalte, die Wildnis ringsum.
    »Coolbar ist zum Heulen. Das Schlimmste von allem. Meine Familie kam vor zwanzig Jahren aus dem hinteren Teil von Castlerock hierher, aber für die Nachbarn hier sind wir immer noch Zugezogene.«
    Bei dem Wort Zugezogene heulte ein so schauerlicher Windstoß durch die Höhle, dass Shell zu zittern begann. »Los, raus hier«, sagte sie.
    Declan nickte. »Okay.«
    Sie schlüpften in ihre Sachen. Es war wie eine Erlösung, wieder auf den Strand hinauszukommen. Die Sonne war hinter einer Wolkendecke verschwunden, die Wellen hatten sich der Küste genähert. Shell blickte hinaus auf das Meer und sog die Luft ein. Hinter ihr blökte ein Schaf. Sie drehte sich um und entdeckte es, gefangen auf halber Höhe der Klippe auf einem Felsvorsprung. Wie war es dort nur hingekommen? Sie stellte sich vor, dass es dort nun für alle Zeit sein Dasein fristen musste oder sich vielleicht vor lauter Verzweiflung in die Tiefe stürzen würde, auf die Felsen.
    »Komm«, sagte Declan und zog sie am Arm.
    Er fuhr sie bis zum Kreuz, das oberhalb des Dorfes stand, und sprach während der Fahrt kaum ein Wort. Shell sang den Rest des Liedes vom Schmied, während sie über die holperige Landstraße dahinfuhren, aber Declans Augen waren fest auf die Straße gerichtet, starrten auf den Asphalt, der durch den wuchernden Grasstreifen in der Mitte in zwei Hälften zerfiel.
    »Besser, du steigst jetzt aus«, sagte er und hielt.
    Sie nickte. »Okay. Also, bis dann, Declan.« Sie öffnete die Tür und wollte aussteigen.
    »Tschau, Shell.« Er hielt sie am Handgelenk zurück. »Shell …«, sagte er.
    »Was denn?«
    Er drehte seine Hand so, dass ihre Handflächen sich berührten. Dann verschränkte er seine Finger mit ihren.
    Declan hatte das bisher noch nie getan. Shells Herz setzte für einen kurzen Moment aus.
    »Ja?«, sagte sie lächelnd.
    »Du bist …« Er zögerte.
    Sie wartete.
    Sie spürte, wie er ihre Hand drückte.
    »Ja?«
    »Du bist die Beste aus der ganzen Klasse«, sagte er.
    Shell dachte an ihre miserablen Noten in der

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