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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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London steigen und dann die Erste in der Schlange sein – vor welchem Krankenhaus auch immer, das irische Mädchen aufnahm, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten. Egal wo diese Klinik sich befand, sie würde sie finden.
    Sie umrundete das Wäldchen und ließ sich auf dem umgestürzten Baum nieder, um ein letztes Mal auf die Bergfalte herabzublicken. Sie starrte zum Kirchturm hinüber, auf die Schieferdächer, die im Wind schwankenden Ulmen, die müden Felder. Shell ließ die Tasche vor sich zu Boden plumpsen.
    Sie holte das Geld heraus und strich mit der Hand über die Scheine.
    Der Geist war ihr doch gefolgt.
    Sie erinnerte sich an Mums Stimme, wie sie in jener Osternacht aus ihrem Grab zu ihr gesungen hatte.
    Sie dachte an Nelly Quirke, den Stoffhund, und an Jimmys Verhalten, als er im Frühjahr krank geworden war, mit den weiß hervorstechenden Sommersprossen in seinem schmalen Gesicht, wie er sich eine Schaufel gewünscht hatte.
    Sie dachte an Trix, an ihre Puppen aus Papier und seltsamen Gesänge, wie sie sich ankuschelte, um ein neues Abenteuer von Angie Goodie zu hören.
    Sie werden gar nicht wissen, wie man nachts die Zimmertür verriegelt.
    Sie erinnerte sich an die Nacht, in der die Eule zu ihr sprach und ihr riet zu war-ar-ar-ar-arten.
    Langsam verstrich der Morgen.
    Als es Mittag wurde, nahm Shell ihre Tasche. Es läutete zum Angelusgebet, schon wieder, wie eine Platte, bei der die Nadel in der Rille hing. Sie machte sich nicht die Mühe, die Schläge zu zählen, sondern stapfte über den Acker zurück zum Haus und packte alles wieder aus. Dann öffnete sie das Klavier, legte das Geld in die Teedose zurück und verschloss es wieder.
    Sie aß das zuvor geschmierte Sandwich, heizte den Ofen vor und begann ein paar Scones zu backen.

Sechsundzwanzig
    Die Weidenblätter wehten gespenstisch bleich im Wind. In der Kälte verlor der Rotdorn seine Beeren. Shell wurde sechzehn. Sie teilte Dad eines Tages mit, dass sie mit der Schule fertig sei, und er nickte, als hätte er verstanden.
    Mittlerweile war er nur noch an den Wochenenden zu Hause. Das Geld in der Teedose wurde langsam weniger. Shell hatte es aufgegeben nachzuzählen, aber sie merkte es auch so.
    An den meisten Samstagen saß er in seinem Sessel neben dem Heizelement, starrte Löcher in die Luft und klimperte mit den Münzen in seiner Hosentasche. Es schien, als hätte er bis zum Öffnen der Kneipe nichts zu tun. Irgendetwas ließ ihm keine Ruhe, aber Shell hatte keine Ahnung, was es war. Zuweilen schaute er sie an und wandte den Blick dann wieder ab, mit gefalteten Händen, wie zum Gebet. Doch die Finger rieben unaufhörlich über seine Knöchel, als wollte das Gebet einfach nicht heraus.
    Sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
    Nachts lag sie in ihrem Bett und lauschte auf das Atemkonzert von Jimmy und Trix, während sie schliefen. Dann wanderten ihre Hände über ihren Bauch. Shell war sich sicher, dass der Knopf der Hose jeden Moment abplatzen konnte. Sie hörte Declan, der einen Vers zum Besten gab …
Der Bauch von Shell
wächst ziemlich schnell …
    Weiter kam sie nicht. Declan hätte ihn irgendwie vollenden können, viel besser, als sie angefangen hatte. Ihr fiel wieder ein, dass er ohne ein Wort die Flucht ergriffen hatte, wahrscheinlich in Begleitung von Bridie. Du bist eine Klasse für sich, Shell. Die Klasse der allerdümmsten Schülerin, das war sie. Sie umschlang ihr Kissen mit beiden Armen und wünschte sich, sie hätte Declan an seinen langen dunklen Locken packen können, um ihn in einen Kuhfladen zu schubsen. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie er kopfüber in die grüne Pampe tauchte. Shell fuhr in der Dunkelheit hoch und nickte zufrieden. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein. Irgendwie war es nicht das, was sie sich wünschte. Nicht wirklich. Du bist eine Klasse für sich, Shell. In New York war es fünf Stunden früher. Wahrscheinlich war er immer noch in der Stadt unterwegs, trank Bier in einem irischen Pub und trug seine Gedichte vor. Wartete auf die richtige Chance, spielte mit vollem Einsatz.
    Tu’s doch, Declan, tu’s, dachte sie. Er war nicht wie der Schmied in Mums Lied. Im Gegensatz zu ihm hatte ihr Declan niemals irgendwelche Versprechungen gemacht. Er hatte ihr nie einen Brief geschrieben. Er war vielleicht ein aalglatter Herzensbrecher, aber er hatte auch nie vorgegeben etwas anderes zu sein.
    In diesem Moment fiel es ihr ein:
Der Bauch von Shell
wächst ziemlich schnell.
Die Hose ist nicht mehr zu groß,
denn

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