Ein reiner Schrei (German Edition)
Er sprach leise.
»Was ertragen?«, fragte sie.
»Wenn wir ihre Ruhe stören, Shell? Wenn wir sie ausgraben würden? Um zu beweisen, dass du die Wahrheit sagst.«
Sie starrte ihn an. »Sie ausgraben?« Sie schüttelte den Kopf. »O nein. Das können wir doch nicht tun.«
»Na bitte«, höhnte Molloy. »Sie lügt.«
Der Steinkreis. Die Wattepolsterung. Das zarte Geflecht der Adern. Alles war gesegnet worden.
»Ich möchte sie nicht stören. Bitte.«
»Wir können sie wieder begraben, Shell«, sagte Pater Rose. »In geweihter Erde. Ich kann es selbst tun.«
Ihre Zähne hatten angefangen zu klappern, wie die von Dad. »Müssen wir?«
»Ich fürchte, ja, Shell.«
Später gingen sie zum Acker. Shell blieb am großen Steinhaufen stehen und schaute den anderen nach. Und wenn das Baby nicht da ist? Wenn jemand den kleinen Körper gestohlen hat? Was ist, wenn ich das alles nur geträumt habe? Die seltsamen Fragen schwirrten ihr durch den Kopf wie Pfeile. Vier Männer, Pater Rose, Molloy und zwei uniformierte Polizisten, stiegen den Acker hinauf. Molloys Gesicht verriet keine Regung, die scharfen Konturen seiner Gestalt teilten den Wind. Warum mussten wir bloß die Steine aufsammeln, Dad? Warum? Pater Rose hatte den Kopf gesenkt, die Hände vor sich gefaltet, die Schultern hochgezogen. Neben Shell standen auf der einen Seite Mrs Duggan und auf der anderen Miss Donoghue, ihre alte Lehrerin. Die Männer hatten die Stelle erreicht und blickten nach unten. Die beiden Uniformierten fingen an mit Gartenkellen zu graben. Jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen. Miss Donoghues Hand lag auf Shells Schulter. »Es dauert nicht lange, Shell«, sagte sie warmherzig. »Es wird im Handumdrehen vorbei sein.« Sie hatten eigentlich vermeiden wollen, dass sie zuschaute, aber sie hatte darauf bestanden. Die grobe Erde unter ihren Füßen wankte. In ihrer Vorstellung lösten die Gartenkellen einen Erdrutsch aus. Die Grabarbeiten wurden unterbrochen, dann fortgesetzt, langsamer. »Sie haben etwas gefunden«, sagte Mrs Duggan. Die beiden kauernden Männer am Hang hielten inne. Einer stand auf und bekreuzigte sich. Die dunkle Gestalt Molloys ging in die Hocke, seine Hände griffen in die Grube. Der Dritte hatte einen Fotoapparat hervorgeholt. Im trüben Licht sah Shell das Blitzlicht, dreimal hintereinander.
Als der Karton zum Vorschein kam, hätte sie schwören können, dass sie sah, wie der Stechpalmenzweig von Trix herunterfiel. Sie drehte sich um und starrte auf den Haufen aus Steinen, Hunderte übereinander, die Arbeit endloser Morgen.
»Es ist vorbei«, sagte Mrs Duggan. »Gott sei Dank, dass sie sie gefunden haben. Genau wie du gesagt hast, Shell. Jetzt ist der Fall bestimmt erledigt.«
»Komm, weg hier«, sagte Miss Donoghue. »Wir lassen sie damit allein.«
Sie führten sie zu einem wartenden Wagen. Shell stolperte über einen verirrten Stein und blickte ein letztes Mal zurück. Pater Roses Hand bekreuzigte die Luft. Es ist vorbei, Shell. Ob er nun gestanden hatte oder nicht, Dad würde freikommen. Man würde ihr Baby wieder beerdigen. Und eines Tages, schon sehr bald, würde dieser Augenblick nur noch Erinnerung sein.
Aber als sie hinschaute, blitzte die Kamera erneut auf. Und noch einmal. Einer der Männer trieb einige Pflöcke in den Boden und spannte ein gelbes Band um die Stelle. Sie sah die Silhouette von Pater Rose, das Gestikulieren seiner Hände, die plötzlich auseinanderschnellten. War er am Beten? Oder protestierte er?
»Was tun sie denn da nur?«, murmelte sie vor sich hin.
»Komm schon, Shell. Sieh nicht hin. Was immer sie dort besprechen, es handelt sich sicher nur um eine Formalität. Es ist vorbei.«
Doch es war nicht vorbei.
Pater Rose kam zurück zu Mrs Duggan und setzte sich mit geballten Fäusten an den Tisch. Ein seltsames Zucken huschte über sein Gesicht.
»Ist alles geregelt, Pater?«, fragte Mrs Duggan, während sie das Teegeschirr herausholte. »Sind sie fort? Wird das Verfahren gegen Shell eingestellt?«
Shell widmete sich den Keksen auf dem flachen Teller und ordnete sie zu einem Schachbrettmuster. Mit Schokolade, ohne Schokolade, mit Schokolade.
»Werden sie Joe nach Hause gehen lassen?«
Pater Rose nahm sich einen Keks vom Teller. Er führte ihn Richtung Mund, hielt inne und legte den Keks wieder hin.
»Ich habe gehört, was sie besprochen haben«, sagte er. »Sie bezeichneten das Ganze als Tatort.« Er legte den Keks unordentlich auf die anderen. Shell sortierte ihn an seinen
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