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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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in ihrer Vorstellung auf. Das Gesicht von Molloy. Der Steinkreis. Das Baby in der Höhle. Zwölfmal das Angelusgebet. Brombeeren, die aus der Hecke hervorlugten. Bist du zum Beten hergekommen oder um Schutz zu suchen, Shell? Gebet oder Schutz? Die weiß geriffelte Oberfläche der Milchglasscheibe, die Gespensterbäume. Gestehen, lügen, küssen oder sterben Sie, Miss Talent. War-ar-ar-arte, sagte die Eule, die in einer Lichtkugel mit den Flügeln schlug. Ich hasse diesen Ort hier. Declan, der zum Abschied aus dem heruntergekurbelten Wagenfenster winkte.
    Trix leistete ihr im Bett Gesellschaft und zeichnete ihr Schlangen auf den Rücken, die zu Weihnachtsschmuck wurden. Auf dem Feldbett neben dem Fenster sprang Jimmy in seinen grüngelben Socken herum. Die Schnur haben wir nicht benutzt, Shell. Es kam von ganz allein raus, ehrlich. Sie überreichten ihr ein Geschenk, eingewickelt in rotes Papier. Ein Parfum, das Je Reviens hieß, dasselbe, das Mum sonntags immer benutzt hatte.
    Sie schlief wieder ein. Lügen. Gestehen. Sterben. Dad in einer Zelle. Ohne Weihnachtskerzen, nur mit einer nackten Glühbirne. Er hatte gelogen, um sie zu retten, das war ihr nun klar. Sie sah ihn wieder vor sich, in der Küche, wie er an ihr vorbeigestarrt hatte, während Sergeant Liskard wartete. Dads starre Augen, gebannt vom Anblick des Gesichtes am Klavier. Mum. Die ihn unverwandt ansah, unerbittlich. Die Gitterstäbe, das Milchglasfenster, die Eisentür. Wo er nun war, gab es kein Klavier mit Whiskey darin. Wie würde er ohne ihn zurechtkommen?
    Sie wachte auf. Mrs Duggan war mit dem Frühstück hereingekommen. Sie legte ihr Baby neben Shell aufs Bett, während sie Jimmys Feldbett richtete. Stille erfüllte den Raum. Der kleine Mund machte Kaubewegungen. Shell hielt ihren kleinen Finger vor die winzige geballte Faust. Seine Finger umklammerten den ihren, passgenau wie Schloss und Schlüssel.
    Draußen setzte ein Wunder ein. Schneeflocken schwebten an ihrem Fenster vorbei, eine Seltenheit in Irlands Süden.
    »Geht es dir gut genug, um aufzustehen?«, fragte Mrs Duggan.
    Shell nickte. »Ich denke, schon.« Sie schälte sich aus den Decken und tappte auf Zehenspitzen zum Flügelfenster hinüber. Durch die weißen Punkte hindurch konnte man bis zum Wäldchen sehen, dahinter den bedeckten Himmel mit noch mehr Schnee.
    »Wo ist Dad?«, fragte sie.
    »Er ist immer noch dort, auf der Wache. Die Gardai halten ihn fest.«
    »Mrs Duggan«, sagte sie leise. »Ich muss zu ihm. Ich muss mit ihm reden.«
    »Ja, Shell. Du kannst morgen hingehen. Wenn du ein bisschen zu Kräften gekommen bist. Pater Rose fährt dich.« Sie stellte sich neben sie ans Fenster und rieb, während sie sprach, dem kleinen Padraig den Rücken, damit er sein Bäuerchen machte. »Dein Dad hat gestern angerufen, Shell. Als du geschlafen hast. Er sagte, er hätte ein richtiges Weihnachtsessen bekommen, Truthahn mit weißer Soße. Und dass ich dir fröhliche Weihnachten bestellen soll.«
    Der jüngste Hund der Duggans jagte über den Hof, versuchte mit der Schnauze die Schneeflocken aufzufangen und danach zu schnappen. Kein Laut war von ihm zu hören, die Welt war ein Stummfilm. Fröhliche Weihnachten, Shell. Der Schnee schoss nach oben, als hätte jemand jedes Detail eines Erinnerungsfotos in eine Schneekugel gepackt und sie verkehrt herum geschüttelt. Zwischen den Flocken blitzten Bilder einer glücklicheren Vergangenheit auf. Dad in der Gischt, wie er neben ihr in den heranrollenden Wellen gestanden hatte, mit hochgekrempelten Hosen. Sie waren gemeinsam hochgesprungen, wenn die Welle in sich zusammenfiel und zu schneeweißem Schaum zerfiel. Mum lief vorbei, ihre Strickjacke um die Taille gebunden, den Fluten ausweichend. Sie blieb stehen, tauchte die Hände hinein, um sie und Dad vollzuspritzen, rannte dann lachend davon, als Dad ins Wasser trat und ein großer Schwall sich über sie ergoss. Shell, damals noch klein, hatte sich an seinen Unterarm geklammert, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ihr Füße stampften platschend im Wasser, sie hüpfte auf der Stelle und krähte Dads alten Reim: Eis, schönes Eis, Eis wird verkauft, je mehr ihr esst, desto schneller ihr lauft! Mum kam zurückgerannt und bewarf sie mit Lassos aus Seetang.
    Mrs Duggans Hand legte sich auf ihre Schulter. Der Schnee deckte das Autodach zu. »Du wirst wieder Mutter«, sagte sie leise. »Eines Tages. Ganz bestimmt.«

Vierzig
    »Dad«, sagte Shell. »Ich bin es.«
    Es war am nächsten Tag. Pater Rose

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