Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
Vom Netzwerk:
fünfzehn Minuten da, Dad. Wir haben uns unterhalten.«
    »Unterhalten?«
    »Erinnerst du dich nicht? Über dein Geständnis. Deine Aussage gegenüber der Polizei?«
    Er zog eine Grimasse, mehr für sich. »Ach, das.«
    »Widerrufe sie, Dad. Sie ist nicht wahr.«
    Er lächelte. Aus seinen geröteten Augen sprach Härte. »Ich hab’s mir selbst zuzuschreiben, Shell. Dein Freund Molloy, der hat die rechte Einstellung.«
    Shell stand auf. »Trix und Jimmy lassen dich schön grüßen«, sagte sie, obwohl es eine Lüge war.
    Er sah sie mit trüben Augen an, als hätte er noch nie etwas von ihnen gehört. Dann nickte er. »Sag ihnen, dass sie artig sein sollen«, sagte er. Dad schlang die Arme um sich selbst, hielt sich an den Ellbogen seines Hemdes fest, als steckte er in einer Zwangsjacke. Er biss sich heftig auf die Unterlippe.
    »Ich richte es ihnen aus, Dad. Mach’s gut.«
    »Du gehst? Jetzt schon?«
    »Ich komme bald wieder. Versprochen.«
    Doch er winkte sie zu sich heran. Widerwillig näherte sie sich ihm. Er flüsterte irgendetwas.
    »Wie bitte, Dad?«
    »Wenn du das nächste Mal kommst. Falls du’s einrichten kannst«, zischte er und packte sie am Arm.
    »Was denn?«
    »Nur einen Tropfen. Ein winzig kleiner würde reichen.«
    »Oh. Ach, das.« Sie lachte. »Du meinst den Whiskey?«
    »Pscht, Shell!« Er bedachte sie mit einem mörderischen Blick. Sie wand sich von ihm los.
    »Die Zeit ist um«, wiederholte der Polizist. Während er Shell hinausgeleitete, begannen Dads Hände auf den Tisch zu trommeln. Er schrie ihr eine ganze Salve an Verwünschungen hinterher. Als die Tür sich schloss, brach das Gebrüll plötzlich ab.
    »Machen Sie sich nichts daraus«, sagte der Polizist. »Er meint es nicht so. Das ist der Alkohol. Beziehungsweise der Mangel daran.« Er zwinkerte ihr zu und lachte. »Das ist doch bestimmt das trockenste Weihnachten, das er je erlebt hat, hab ich Recht?«
    Shell betrachtete die düsteren Wände des Korridors. Zum Lachen, zum Heulen. Dad, der mit dem Alkohol verheiratet war anstatt mit Mum. Und nun schon seit so langer Zeit wusste kaum mehr jemand, was für ein Mann er ohne den Alkohol gewesen war. Jimmy und Trix hatten es nie gewusst. Für Shell gab es die Zeit in den Wellen, danach jahrelanges Nichts.

Einundvierzig
    Pater Rose wartete an der Pförtnerloge. Auch Molloy war dort, tadellos und stirnrunzelnd. Er hatte Shell ein zweites Mal bestellt, diesmal aber würde Pater Rose dabei sein. Molloy führte die beiden in sein Büro. Auf dem Weg dorthin begegneten sie anderen Polizisten, Sekretären und einem Gebäudereiniger. Wo Molloy auch auftauchte, überall folgte ihm betretenes Schweigen.
    Sein Büro war karg und trostlos, mit Drahtglasfenstern und finsteren Schränken voller Akten. Der Geruch von Möbelpolitur hing in der Luft. Molloy deutete auf zwei harte Stühle auf der einen Seite seines fast leeren Schreibtisches und nahm in einem Drehstuhl aus Leder gegenüber von ihnen Platz. Er stützte die Ellbogen auf und faltete die Hände unterm Kinn.
    Shell starrte auf den gräulichen Linoleumboden mit den roten und blauen Sprenkeln. Die beiden Männer begannen sich zu unterhalten. Sie hörte nur halb hin. Dad und seine Schmetterlingshände gingen ihr nicht aus dem Sinn. Das Baby ist tot, Shell. Gott sei Dank.
    »Sie haben doch nichts weiter als ihre Behauptung«, sagte Molloy gerade, als wäre Shell gar nicht anwesend.
    »Wir haben mehr als das, stimmt’s, Shell? Sie hat mir die Stelle gezeigt.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass Sie ihr geglaubt haben?«
    »Das habe ich. Ich tue es noch.«
    »Das ist doch blanker Unsinn. Zwei Babys? In so einem kleinen Ort wie Coolbar?« Molloy schnaubte wie ein Pferd nach einem schwierigen Hindernis.
    »Es ist die Wahrheit. Ich weiß es.«
    Die Worte gingen hin und her. In Shells Vorstellung zitterten Dads Hände und Lippen nach dem Whiskey im Klavier, dem Geruch des Nachtklubs, dem Rasseln der Sammelbüchsen. Mach sie nicht auf uns aufmerksam, Shell, tu’s nicht. Sie stellte sich die Hauptstraße von Castlerock vor, die sie kurz zuvor mit Pater Rose entlanggegangen war, durch einen Morgen voller Leute, die Weihnachtseinkäufe machten. Der Schnee war geschmolzen, ein leichter Nebel waberte durch die feuchte Luft, trübte das Straßenlicht. Der Kreis aus Steinen war bereits gesegnet worden. Das war nicht mehr zu ändern.
    Jemand stellte ihr irgendeine Frage.
    »Was meinst du, Shell?« Es war Pater Rose.
    Sie musste blinzeln.
    »Könntest du es ertragen?«

Weitere Kostenlose Bücher