Ein Ring aus Asche
besonders viel gehabt hätte.«
»A ber wer hat da gestanden?«, fragte Ouida.
»I ch weiß es nicht und die Zwillinge auch nicht. Sie glauben, dass es ein Mann war, aber die Gestalt war sehr dunkel und stand vollständig im Schatten. Sie konnten ihn kein bisschen beschreiben.«
»P etra«, sagte Ouida ernst. »E rzähl sonst niemandem von der Vision der Mädchen.«
Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel. Warmes Braun sah in blaues Grau.
»I ch weiß«, antwortete Petra. Wenn sonst irgendjemand erfuhr, dass die Zwillinge derartige Visionen hatten und diese Visionen die Antworten auf ein jahrhundertealtes Rätsel offenbart hatten oder noch offenbaren würden, wären die Mädchen definitiv in Gefahr– vielleicht aufgrund einer anderen Person oder aus einem anderen Grund, als sie es jetzt bereits waren. Wenn das überhaupt einen Sinn ergab. Petra seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie konnte kaum klar denken, kaum in ihrem Kopf ordnen, was Sinn ergab und was nicht. Hatten die Mädchen das Haus in Brand gesteckt? Oder hatte jemand gesehen, wie sie den Zauber praktiziert hatten, und den Moment genutzt, um selbst das Feuer zu legen?
Warum schienen die Mädchen all diese Erinnerungen, die mehr als zweihundert Jahre zurückreichten, in sich verschlossen zu tragen? Konnten sie sich an alle ihre Vorfahren aus zwölf Generationen zurückerinnern, bis hin zu Cerise? Aber warum?
Und war Thais ein dunkler Zwilling? Petra hatte Clio letzte Nacht separat befragt, nachdem sie eine Aloe-Salbe für die Verbrennungen der beiden hergestellt hatte. Es war sehr spät gewesen. Clio hatte ihr die Absicht des Zaubers erklärt, und Petra hatte gefragt, was sie gesehen hatte. Clio hatte dieselben Dinge beschrieben wie Thais, und doch war sich Petra sicher, dass Clio noch etwas anderes gesehen hatte, etwas, das sie beunruhigt hatte und über das sie nicht sprechen würde.
Das war ein Problem. Ihr ganzes Leben war mit Problemen nur so zugedeckt.
7
»P etra«, sagte Sophie sanft. »W ir sind da.«
Benommen öffnete Petra die Augen. Durch das geöffnete Autofenster sah sie hochgewachsene Virginia-Eichen, die die Sicht auf den Himmel versperrten. Graue Büschel Spanischen Mooses hingen an ihnen herunter wie zerfetzte Seide. In nur einem Augenblick fühlte sich Petra in eine andere Zeit zurückversetzt, in der sie nach oben geblickt und nichts weiter gesehen hatte als Bäume, den Himmel und Moos. Keine Gebäude, keine Flugzeuge, keine Leitungen.
Sie hatte ihr kleines Dorf gemocht. Sie war dort aufgewachsen. Sogar der Name, Ville du Bois, Walddorf, spiegelte wider, wie schlicht und unschuldig ihr Leben damals gewesen war. Nicht einfach– niemals einfach–, aber dennoch einem Rhythmus folgend und unkompliziert. Vorhersehbar, aber in positivem Sinne. Die Saat, die Tiere auf dem Bauernhof, die Kenntnis von Pflanzen, von den Tieren in den Wäldern und den Fischen in den Bächen. Die Zyklen der Bonne Magie hatten so wunderschön und selbstverständlich aneinander angeknüpft. Heutzutage war es schwieriger, sich mit der Erde, der Natur verbunden zu fühlen.
Dort war sie zur Frau herangewachsen. Sie hatte Armand geheiratet, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Sie hatten Kinder bekommen. Zuerst Melita. Dann Jacques, der mit zwei Jahren gestorben war. Philippe hatte zehn Monate gelebt. Danach hatte sie sich entschlossen, keine weiteren Kinder zu empfangen. Aber Unfälle passierten eben, sogar Hexen, die einen Antifruchtbarkeitszauber angewandt hatten. Und dieser Unfall war Cerise gewesen, die auf die Welt kam, als Petra fast vierzig Jahre alt war. Cerise war eine einzige Freude gewesen und keinen Tag ihres Lebens krank. Also hatte Petra ihr Glück noch einmal versucht. Doch Amanda hatte gerade lange genug gelebt, um einen Namen zu bekommen und gesegnet zu werden.
Dann war Armand des dörflichen Lebens müde geworden. Er war zu einer Reise nach New Orleans aufgebrochen, um Werkzeug zu kaufen und Blei für Gewehrkugeln. Nur einmal war er nach Hause gekommen, und zwar um Petra zu bitten, gemeinsam mit ihm und den Kindern in die Stadt zu ziehen. Sie hatte Angst gehabt. Sie hatte nicht gewollt, dass ihren Kindern etwas zustieß.
Wie überaus ironisch.
Sie wusste, dass Armand mit fünfundvierzig an Malaria gestorben war. Sie hatte seinen Grabstein auf dem Friedhof in New Orleans gesehen. Wo sie jetzt lebte. Nachdem sie ihre beiden einzigen Kinder, die überlebt hatten, aufgrund verheerender Umstände verloren hatte.
»P
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