Ein Ring von Tiffany - Roman
Nickerchen.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Haus.
Erst nach ein, zwei Sekunden stellte Leigh fest, dass sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen krallten. Versuchte er, sie zu irritieren, oder war ein solches Verhalten für ihn ganz natürlich? Sollte es ein Scherz sein, dass er überempfindlich auf Kritik reagierte und dachte, sein Buch - wovon immer es handeln mochte - sei tatsächlich die zweite Offenbarung, oder war all das nur Fassade? Er konnte so charmant, frech und witzig sein, und dann - paff! - wurde er wie auf Knopfdruck wieder zu dem aufgeblasenen Arschloch, als das ihn jeder hinstellte.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass sie noch eine Stunde herumbringen musste, bevor sie im Hotel einchecken
konnte; also machte sie sich nach einem Schlückchen Bloody Mary und einem sehnsüchtigen Blick auf das Zigarettenpäckchen, das Jesse liegen gelassen hatte, ans Lesen. Der Roman begann im Klub der Auslandskorrespondenten in Phnom Penh, wohin es den Erzähler verschlagen hatte - einen trinkfesten Amerikaner, der Leigh seltsam bekannt vorkam. Nicht plagiatsbekannt, einfach nur ein bisschen abgedroschen: Zu diesem Typ fielen ihr sofort Titel ein wie Das Ende einer Affäre, Der stille Amerikaner und Im Namen des Guten . Das allein machte ihr noch kein großes Kopfzerbrechen - ließ es sich doch leicht genug ändern -, doch als sie die nächsten paar Seiten und dann die darauffolgenden las, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl. Die Geschichte selbst - über einen Knaben von vielleicht Mitte zwanzig, der mit seinem allerersten Buch gleich unverhofft einen Bestseller landet - befriedigte die voyeuristischen Neigungen potenzieller Leser aufs kunstvollste: nicht weiter überraschend angesichts der einschlägigen Erfahrungen des Autors auf diesem Gebiet. Nein, es war der Schreibstil, der sie bedenklich stimmte: seicht, unoriginell, zeitweilig sogar direkt öde. Ganz und gar nicht Jesse-mäßig. Sie holte tief Luft und sagte sich, dass es viel schlimmer hätte kommen können. Wäre die Geschichte an sich schon eine Katastrophe gewesen, hätte sie nicht gewusst, wo sie überhaupt ansetzen sollte.
Als Jesse eine Stunde später wieder angeschlurft kam, verschlafen, aber statt dem Bier mit einer Flasche Wasser in der Hand, dämmerte es Leigh allmählich, dass sie in die völlig falsche Liga geraten war. Wie um alles in der Welt sollte sie , Leigh Eisner, eine Junglektorin, die es bisher noch nie mit einem Bestsellerautor zu tun gehabt hatte, einem der in literarischer und kommerzieller Hinsicht erfolgreichsten Schriftsteller seiner Generation beibringen, dass es sein neuestes Werk in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform auf keinen Fall bis an die Spitze irgendeiner Bestsellerliste schaffen würde? Die Antwort darauf lautete schlicht und ergreifend: Vergiss es.
Jesse zündete sich eine Zigarette an und schob ihr das Päckchen hin. »Leben Sie ein bisschen. Sie verschlingen sie doch sowieso schon die ganze Zeit mit Ihren Blicken.«
»Ach ja?«
Er nickte.
Also gab sie nach. Ohne noch eine Sekunde zu überlegen und mehr als einen flüchtigen Gedanken darauf zu verschwenden, wie enttäuscht Russell wäre, wenn er davon wüsste, zupfte sie eine Zigarette aus der Packung, steckte sie sich zwischen die Lippen und beugte sich begierig dem Streichholz entgegen, das Jesse ihr hinhielt. Zu ihrer Überraschung brannte der erste Zug in der Lunge und schmeckte ätzend, aber der zweite und dritte gingen schon glatter.
»Ein ganzes Jahr im Eimer«, sagte sie reuevoll und inhalierte erneut.
Jesse zuckte mit den Achseln. »Sie kommen mir nicht vor wie jemand, der es übertreibt, sei es mit Alkohol, Drogen, Essen oder... überhaupt irgendwas. Wenn es Sie glücklich macht, hin und wieder eine zu rauchen, warum genießen Sie es dann nicht einfach?«
»Wenn ich nur hin und wieder eine rauchen könnte, dann täte ich das«, antwortete Leigh. »Das Problem ist, wenn ich mir eine anstecke, nehme ich zehn Minuten später die ganze Schachtel in Angriff.«
»Aha. Miss Alles-unter-Kontrolle hat also doch eine Schwäche.« Jesse lächelte.
»Super, freut mich, dass mein Kampf gegen die Sucht Sie amüsiert.«
»Ich finde ihn nicht so sehr amüsant als vielmehr sympathisch.« Er überlegte kurz. »Aber ja, doch, wohl auch amüsant.«
»Danke.«
Jesse deutete auf das Manuskript und sagte: »Schon irgendeinen Eindruck gewonnen, oder gehört es nicht zur üblichen Vorgehensweise
, darüber zu sprechen, bis Sie durch sind?«
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