Ein Ring von Tiffany - Roman
»Unwahrscheinlich.«
»Nein, wirklich, ich denke, das könnte -«
»Mir kommen keine Reporter oder Fotografen ins Haus, nie und nimmer.«
»Verstehe«, versicherte Leigh - und erinnerte sich unwillkürlich an die Doppelseite mit Bildern von Russells Apartment, die sie in Elle Décor gesehen hatte, bevor er und sie sich überhaupt kannten. Die Fotostrecke war Teil eines Artikels über die schicksten Junggesellenbehausungen der Stadt, in dem Russells ultramoderner Loft in TriBeCa an vorderster Front präsentiert wurde. Zu der Zeit konnte Leigh sich nicht sattsehen an den Ansichten von der Küche, die sich als Tummelplatz für einen Großcateringservice zu eignen schien, an dem Doppelbett auf dem niedrigen Podest, das sich kaum von einer schlichten Matratze am Boden unterscheiden ließ, und an dem Bad, das aussah, als hätte man es von einem Fünfsternehotel in Russells Wohnung verpflanzt. Der Artikel hatte ihr verraten, dass dies alles locker auf einer durchgehenden Wohnfläche von gut zweihundert Quadratmetern mit übermannshohen Fenstern und schwarz lackierten Dielenböden Platz hatte, aber erst bei ihrem dritten Date hatte Leigh die so eindrücklich beschriebene Pracht persönlich in Augenschein genommen. Seither hatte sie dort so wenig Zeit wie irgend möglich zugebracht; ein derartiges Übermaß an blank poliertem Stahl, schwarzem Lack und scharfen Kanten machte sie noch nervöser als sie sowieso schon war.
Jesse setzte sich an den Tisch und bot ihr den Stuhl gegenüber
an. Nach einem weiteren gemächlichen Schluck aus der Bierflasche holte er tief Luft, nestelte am Verschluss einer abgewetzten Segeltuchtasche und förderte daraus ein telefonbuchdickes Bündel Papier zutage, das er Leigh mit beiden Händen überreichte, wie ein asiatischer Kellner im Restaurant die Rechnung oder eine Visitenkarte. »Gehen Sie behutsam damit um«, sagte er leise.
»Ich dachte, ich soll ehrlich sein und nicht behutsam?« Sie legte das Manuskript vor sich hin und widerstand nur mit Mühe dem Drang, sich sofort darüber herzumachen. »›Kein Mensch redet Klartext mit mir, ich werde verhätschelt und kriege Honig ums Maul geschmiert. Ich will einen Lektor, der mir sagt, was Sache ist.‹« Sie gab sinngemäß wieder, was er laut Henry nach ihrem ersten Zusammentreffen geäußert hatte.
Jesse zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Das war alles nur Großmächtigkeit. Bockmist. Ich bin ein greinendes Wickelkind, das schon mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen kaum zurechtkommt, geschweige denn mit vernichtender Kritik.«
Leigh presste die Handflächen auf den Tisch und lächelte. »Nun, Jesse Chapman, damit unterscheiden Sie sich in nichts von sämtlichen Autoren, die ich kenne. Bisher war noch keiner dabei, der sich für Gott gehalten hat, aber ein fataler Mangel an Selbstvertrauen, gepaart mit ständigen Selbstzweifeln und Selbstbezichtigungen - d amit werde ich fertig.«
Jesse brachte sie mit der Zigarette in der erhobenen Hand zum Schweigen. »Brr, bitte keine voreiligen Schlussfolgerungen. Das hier« - er deutete auf das Manuskript - »ist der literarische Wurf dieses Jahres, wenn nicht dieses Jahrzehnts - so viel kann ich mit Sicherheit sagen. Ich habe lediglich um ein wenig Feingefühl für den unwahrscheinlichen Fall gebeten, dass Sie auf den einen oder anderen Abschnitt stoßen, der nicht Ihren Beifall findet.«
»Aber ja, natürlich. Den einen oder anderen Abschnitt. So
viele werden es bestimmt nicht sein.« Leigh nickte in gespieltem Ernst.
»Ausgezeichnet. Schön, dass wir uns darin einig sind.« Nach einer Weile sah er sie an und sagte: »Und?«
»Und was?«
»Wollen Sie es nicht lesen?«
»Doch, will ich, sobald Sie mich allein lassen.«
Jesse riss die Augen auf. »Allein? Ich wusste nicht, dass das die übliche Vorgehensweise ist.«
Leigh lachte. »Sie wissen so gut wie ich, dass bei diesem Projekt nichts der üblichen Vorgehensweise entspricht.«
Er setzte eine Unschuldsmiene auf. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Üblich wäre, dass mein Chef Ihr Buch lektoriert, nicht ich. Üblich wäre, dass ich Ihr Manuskript - oder wenigstens ein Konzept und ein Musterkapitel - gelesen hätte, bevor ich mich zweieinhalb Stunden ins Auto setze, um mich mit Ihnen zu treffen. Üblich wäre -«
Jesse hob die Hände, wie um sich dem Ansturm ihrer Einwände zu erwehren, und stand auf. »Mir ist langweilig«, verkündete er. »Schreien Sie, wenn Sie was brauchen. Ich mache oben ein kleines
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