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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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unseren Vorfahren viele gegeben haben muß, die – wenn es sich bloß um ihr eigenes Leben gehandelt haben würde – lieber in den Tod gegangen wären, als daß sie sich mit Brot ernährt hätten, das sie dem Nächsten raubten. Aber das durften sie nicht. Teure Wesen hingen von ihnen ab. Der Mann liebte das Weib damals wie heute. Er hatte Kinder – Gott weiß, woher er den Mut nahm, Vater zu sein! Sie waren seinem Herzen gewiß ebenso teuer, wie uns unsere Kleinen sind, und er mußte sie ernähren, kleiden und erziehen. Die sanftesten Geschöpfe werden wild, wenn sie für Junge sorgen müssen, und in der wölfischen Gesellschaft von ehedem ließen gerade die zärtlichsten Gefühle den Kampf ums Brot besonders verzweifelt und erbittert entbrennen. Um derer willen, die auf ihn angewiesen waren, blieb dem Manne keine Wahl: er mußte sich in den schändlichen Kampf stürzen. Er mußte betrügen, übervorteilen, verdrängen, unter dem Werte einkaufen und über dem Werte verkaufen, das Geschäft vernichten, durch das der Nachbar seine Kleinen ernährte, die Leute verleiten, zu kaufen, was sie nicht kaufen wollten, und zu verkaufen, was sie nicht verkaufen durften, er mußte seine Arbeiter drücken, seine Schuldner peinigen und seine Gläubiger hinters Licht führen. Selbst wenn jemand leidenschaftlich und unter Tränen einen Weg suchte, seinen Lebensunterhalt zu erwerben und für seine Familie zu sorgen, ohne einen schwächeren Nebenbuhler zu verdrängen und ihm das Brot vom Munde wegzureißen, so war es doch schwer, ja unmöglich, einen solchen Weg zu finden. Sogar die Diener der Religion waren der nämlichen grausamen Notwendigkeit unterworfen. Während sie ihre Schäflein vor der Geldgier warnten, wurden sie von der Rücksicht auf ihre Familie gezwungen, stets den materiellen Lohn ihres Berufes im Auge zu behalten. Die Ärmsten! Sie hatten in der Tat eine schwere Aufgabe: sie sollten den Menschen Edelmut und Selbstlosigkeit predigen, während doch sie wie alle damals wußten, daß bei den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen jedermann zur Armut verurteilt war, der diese Tugenden üben wollte. Sie stellten für die Lebensführung der Menschen Gesetze auf, die zu übertreten Gebot der Selbsterhaltung für jedermann war. Wenn diese würdigen Männer auf das unmenschliche Schauspiel rings in der Gesellschaft blickten, so wehklagten sie wohl über die Verderbtheit der Menschennatur –, als ob in solch einer Teufelsschule nicht auch Engel hätten entarten müssen! Ach, meine Freunde, glauben Sie mir, nicht jetzt, nicht in unserem glücklichen Zeitalter, erweist die Menschheit die ihr innewohnende Göttlichkeit. Nein, sie hat sie vielmehr in jenen bösen Tagen bewiesen, wo selbst der Kampf aller gegen alle ums Dasein, jener Kampf, der Barmherzigkeit in Torheit verkehrte, Edelmut und Güte nicht ganz von der Erde zu bannen vermochte.
    Es ist nicht so schwer, die Verzweiflung zu begreifen, mit der bei der wilden Jagd nach Geld Männer und Frauen einander bekämpften und zerfleischten, die unter anderen Verhältnissen edel, wahr und redlich gewesen wären. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was es damals hieß, Geld zu entbehren und die Folgen der Armut zu leiden! Armut bedeutete für den Körper Hunger und Durst, die Qualen der Hitze und Kälte, keine Fürsorge und Pflege in Zeiten der Krankheit, Arbeit ohne Ruh und Rast in Tagen, der Gesundheit. In moralischer Hinsicht bedeutete sie Unterdrückung, Verachtung, geduldiges Ertragen von Schmach, Schande und Mißhandlung, rohen Umgang von Jugend auf, Verlust der kindlichen Unschuld, der weiblichen Anmut, der männlichen Würde. Für den Geist bedeutete sie Tod, das heißt Unwissenheit, Lähmung aller Fähigkeiten, die uns von den Tieren unterscheiden, Erniedrigung des Lebens zu einem Kreislauf körperlicher Vorgänge.
    Ach, meine Freunde, wenn Ihnen nur die Wahl gelassen bliebe, entweder mit Ihren Kindern ein Geschick zu erleiden, wie ich es eben beschrieben habe, oder aber dem Reichtum nachzujagen, wie man es im neunzehnten Jahrhundert tat: wie lange, meinen Sie wohl, würde es dauern, bis Sie auf die Stufe der Moral Ihrer Vorfahren hinabgesunken wären?
    Vor ungefähr zwei oder drei Jahrhunderten ward in Indien eine Tat der Barbarei verübt, und zwar unter so ungewöhnlich schrecklichen Umständen, daß sie wahrscheinlich ewig unvergessen bleiben wird, obgleich ihr nicht viele als Opfer gefallen sind. Eine Anzahl englischer Gefangener wurde in einem Raum

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