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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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ersuche, mit mir gewisse Betrachtungen anzustellen, die mir das Ereignis nahegelegt hat, nehme ich an, daß ich mehr dem Laufe Ihrer eigenen Gedanke folge, als ihn ablenke.“
    Bei dieser Stelle der Predigt flüsterte Edith ihrem Vater etwas zu, worauf er zustimmend nickte und sich zu mir wandte.
    „Herr West“, sagte er, „Edith meint, daß es Ihnen vielleicht peinlich sein könnte, eine Rede in dem Sinne zu hören, wie es von Herrn Barton angedeutet worden ist. Sollte dem so sein, so brauchen Sie deswegen nicht auf Ihre heutige Predigt zu verzichten. Wenn Sie es wünschen, so wird uns Edith mit Herrn Sweeters Predigtzimmer verbinden, und ich kann Ihnen auch für diesen Fall einen recht guten Vortrag versprechen.“
    „Nein, nein!“ erwiderte ich. „Glauben Sie mir, daß ich viel lieber hören möchte, was uns Herr Barton zu sagen hat.“
    „Wie es Ihnen beliebt“, antwortete mein Wirt.
    Als ihr Vater zu mir sprach, hatte Edith einen Knopf berührt, und Herrn Bartons Stimme war plötzlich verstummt. Jetzt, auf einen anderen Druck ihrer Hand, ward das Gemach von neuem mit den ernsten, sympathischen Lauten erfüllt, die bereits einen ungemein günstigen Eindruck auf mich gemacht hatten.
    „Ich glaube annehmen zu dürfen, daß dieser Rückblick eine gleiche Wirkung auf uns alle ausgeübt hat: größer denn je ist unser Staunen über die wunderbare Wandlung, die ein kurzes Jahrhundert in der materiellen und moralischen Lage der Menschheit herbeigeführt hat.
    Dennoch mag der Gegensatz zwischen der Armut unserer Nation und der Welt überhaupt im neunzehnten Jahrhundert und ihrem gegenwärtigen Reichtum vielleicht nicht größer sein als der Abstand zwischen der Armut und dem Reichtum verschiedener anderer Geschichtsperioden. Nicht größer vielleicht zum Beispiel als der Gegensatz zwischen der Armut unseres Landes zur Zeit der ersten Kolonisation im siebzehnten Jahrhundert und dem verhältnismäßig großen Wohlstand, dessen es sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erfreute; oder zwischen dem England Wilhelm des Eroberers und dem der Königin Viktoria. Gewiß war der Gesamtreichtum einer Nation damals ebensowenig wie jetzt ein genauer Maßstab für die Lage ihrer Volksgenossen. Allein Beispiele wie die angeführten ermöglichen uns doch eine teilweise Parallele zu der materiellen Seite des Gegensatzes, der zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert besteht. Erst wenn wir die moralische Seite des Gegensatzes zwischen den beiden Perioden betrachten, so finden wir uns einer Erscheinung gegenüber, mit der sich in der Geschichte nichts vergleichen läßt, so weit wir auch zurückblicken mögen. Man wäre beinahe versucht, auszurufen: ‚Da muß ein Wunder geschehen sein!’ Wenn wir jedoch das müßige Staunen lassen und an eine kritische Untersuchung des an scheinend Wunderbaren herantreten, so stellt sich heraus, daß est: durchaus nichts Wunderbares, geschweige denn ein Wunder ist; Um die vorliegende Tatsache zu begreifen, braucht man nicht einmal eine moralische Wiedergeburt der Menschheit anzunehmen oder eine restlose Vernichtung aller Bösen und Erhaltung der Guten allein. Sie findet ihre einfache und einleuchtende Erklärung in der Rückwirkung veränderter Gesellschaftsverhältnisse auf die menschliche Natur. Sie bedeutet nichts anderes als dieses: Eine Gesellschaftsordnung, die auf den falsch verstandenen Interessen der Selbstsucht des einzelnen beruhte ; und an die gesellschaftsfeindlichen und tierischen Instinkte der menschlichen Natur appellierte, ist durch Einrichtungen ersetzt worden, die auf die wahren Interessen einer vernünftigen Selbstlosigkeit der einzelnen begründet sind, und die sich an die sozialen und edlen Triebe der Menschen wenden.“
    „Meine Freunde, wenn Sie die Menschen wieder als die wilden Bestien sehen möchten, als die sie uns im neunzehnten Jahrhundert erscheinen, so brauchen Sie nur die alte wirtschaftliche und soziale Ordnung wieder einzuführen. Sie lehrte jeden einzelnen, in den Mitmenschen eine natürliche Beute zu sehen und seinen eigenen Gewinn in dem Verlust des Nächsten zu suchen. Ohne Zweifel glauben Sie, daß auch die bitterste Not Sie nie in Versuchung geführt haben würde, von dem zu leben, was Ihre größte Gewandtheit oder Kraft anderen zu entreißen vermocht hatte, die ebenso bedürftig waren wie Sie selbst. Aber stellen Sie sich vor, daß Sie nicht bloß für Ihr eigenes Leben zu sorgen hätten, wie dann? Ich bin überzeugt, daß es unter

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