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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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eingeschlossen, der nicht einmal für den zehnten Teil von ihnen Luf t genug enthielt. Die Unglücklichen waren tapfere Männer, treue Kameraden, aber als sie zu ersticken drohten, vergaßen sie in ihrer Todesangst alles. Es entbrannte ein entsetzlicher Kampf aller gegen alle, denn jeder trachtete sich einen Weg zu einer der engen Öffnungen zu bahnen, wo es allein möglich war, einen Atemzug frischer Luft zu erhaschen. Es war ein Kampf, in dem Menschen zu Bestien wurden. Die Erzählung seiner Schrecken durch die wenigen Überlebenden erschütterte unsere Vorfahren so gewaltig, daß das entsetzliche Geschehnis noch ein Jahrhundert später in ihrer Literatur ein stehendes Beispiel für das höchste körperliche und moralische Elend blieb. Unsere Voreltern konnten schwerlich ahnen, daß uns je als das treffendste Bild ihrer eigenen Zeit das ‚schwarze Loch zu Kalkutta’ erscheinen würde, mit seinem Gedränge wahnsinniger Männer, die einander niederrissen und zu Boden traten, um einen Platz an den Luftlöchern zu erkämpfen. Und so grausig dieses Bild ist, es fehlt ihm doch noch ein Zug, um es ganz zutreffend zu machen. Das ‚schwarze Loch zu Kalkutta’ umschloß keine zarten Frauen, keine kleinen Kinder, keine Greise und Krüppel, es waren wenigstens nur starke Männer, die da litten.
    Bedenken wir, daß die alte Ordnung der Dinge, von der ich rede, bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts geherrscht hat, während uns die ihr folgende neue Gesellschaftsordnung alt dünkt, weil bereits unsere Väter keine andere als sie gekannt haben. Wir können dann nicht umhin, über die Schnelligkeit zu erstaunen, mit der sich ein Umschwung vollzogen haben muß, der einschneidender war und wirkte als jeder frühere Emporstieg der Menschheit. Wenn wir jedoch einen. Blick darauf werfen, wie es im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts um den Geist der Menschen stand, so wird unser Staunen zum großen Teil schwinden. Obgleich man nicht behaupten kann, daß in irgendeinem Lande zu jener Zeit die Geistesbildung im modernen Sinne des Wortes Gemeingut gewesen wäre, so konnte man das damals lebende Geschlecht im Vergleich zu früheren Generationen immerhin intelligent nennen. Selbst dieser verhältnismäßig geringe Grad von Intelligenz hatte die unvermeidliche Folge, daß die gesellschaftlichen Übelstände allgemeiner empfunden und erkannt wurden als je zuvor, wenngleich in früheren Zeiten die sozialen Übel noch schlimmer, viel schlimmer gewesen waren. Erst das wachsende Verständnis der Massen ließ allgemein zum Bewußtsein kommen, wie unheilvoll die gesellschaftlichen Verhältnisse waren, gerade wie die Morgendämmerung die Verlotterung einer Umgebung aufdeckt, die im Dunkeln erträglich erscheinen mochte. Zwei Empfindungen waren es daher, die uns im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts aus der Literatur als Grundtöne entgegenklingen: das Mitleid mit den Armen und Unglücklichen und der Groll über die Untauglichkeit des sozialen Mechanismus, dem Elend der Menschen abzuhelfen. Daraus ergibt sich, daß den Besten jener Zeit ab und zu einem Blitze gleich die Erkenntnis aufging, wie unendlich scheußlich in moralischer Hinsicht das Schauspiel rings um sie war. Wir müssen sogar annehmen, daß tiefes, starkes Mitgefühl mit fremdem Leid manchen besonders feinfühligen und edlen Naturen das Leben geradezu zur Hölle gemacht hat.
    Zwar waren die Menschen jener Zeit sehr weit davon entfernt, wie wir als praktisch leitenden Grundsatz die Idee anzuerkennen, daß die gesamte Menschheit durch ihre eigensten Lebensinteressen zu einer Einheit, einer einzigen Familie verbunden ist, daß tatsächlich alle Menschen Brüder sind. Dennoch würde man sehr mit der Annahme irren, daß sie nicht wenigstens ein ähnliches Gefühl gekannt hätten. Ich könnte aus damaligen Schriftstellern Stellen von großer Schönheit vorlesen, die beweisen, daß der Begriff der allgemeinen Brüderlichkeit von einigen wenigen klar erfaßt und ohne Zweifel von vielen dunkel geahnt wurde. Weiterhin dürfen wir nicht vergessen, daß das neunzehnte Jahrhundert wenigstens dem Namen nach christlich war. Es muß also aufgefallen sein, daß das gesamte Wirtschaftsleben der Gesellschaft die ausgesprochenste Verkörperung eines antichristlichen Geistes war, obgleich ich zugebe, daß diese Tatsache merkwürdig leicht ins Gewicht für viele gefallen ist, die sich Christen nannten.
    Wir stoßen auf eine höchst merkwürdige Tatsache, wenn wir nachforschen, warum

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