Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
Vom Netzwerk:
Halbschlummer liegen, um das Gefühl körperlichen Wohlbehagens gründlich auszukosten. Aus meiner Erinnerung waren die Erlebnisse des gestrigen Tages völlig verschwunden: mein Erwachen im Jahre 2000, der Anblick des neuen Boston, mein Wirt nebst seiner Familie und die wunderbaren Dinge, die ich gehört hatte. Nichts von alledem war mir gegenwärtig. Ich wähnte mich in dem Schlafzimmer meines eigenen Hauses, und die Phantasiegebilde, die halb wachend, halb träumend an meinem Geiste vorüberglitten, bezogen sich auf Ereignisse und Verhältnisse meines früheren Lebens. Halb im Traume gedachte ich der Begebenheiten des Dekorationstages, meines Ausfluges mit Edith und ihrer Familie nach Mount Auburn und des Mahles, das wir zusammen nach unserer Rückkehr in die Stadt eingenommen hatten. Ich erinnerte mich, daß Edith ganz besonders schön ausgesehen hatte, und das ließ mich an unsere Verheiratung denken. Kaum hatte jedoch meine Phantasie angefangen, dieses angenehme Thema weiter auszuspinnen, so fiel mir der Brief ein, den ich am Abend vorher von dem Baumeister erhalten hatte, und der mir mitteilte, daß die neu ausgebrochenen Streiks die Fertigstellung meines Hauses auf unbestimmte Zeit hinausschieben könnten. Damit nahm mein Träumen mit offenen Augen ein jähes Ende. Der Ärger, der für mich mit dieser Erinnerung verknüpft war, ließ mich völlig wach wer den. Es fiel mir ein, daß ich um elf Uhr mit dem Baumeister zusammentreffen sollte, um mit ihm Rücksprache zu nehmen. Als ich die Augen aufschlug, galt also mein erster Blick der Uhr über dem Fußende meines Bettes. Aber nicht genug, daß keine Uhr zu sehen war, gewahrte ich sofort, daß ich mich überhaupt gar nicht in meinem Zimmer befand. Bei dieser Entdeckung fuhr ich auf meinem Lager empor und starrte entsetzt in dem fremden Gemach umher.
    Mir scheint, daß ich viele Sekunden lang in der nämlichen Stellung im Bett gesessen und um mich gestiert hatte, ohne daß es mir möglich gewesen war, den geringsten Anhaltspunkt dafür zu finden, daß ich wirklich und leibhaftig ich selbst war. In jenen Augenblicken konnte ich mich ebensowenig von dem reinen Sinn unterscheiden, als dies eine unfertige Seele tun könnte, der noch nicht die besonderen Merkmale und individualisierenden Züge aufgeprägt worden sind, die erst etwas Persönliches aus ihr machen. Sonderbar, daß dieses Gefühl der Unklarheit über das eigene Ich so unendlich qualvoll ist! Aber wir Menschen sind nun einmal so beschaffen. Es gibt keine Worte, um die geistige Marter zu schildern, die ich erlitt, während ich hilflos und im Finstern tappend mein Ich in einer unendlichen Leere suchte. Kein anderer seelischer Vorgang ruft wahrscheinlich gleich stark die Empfindung des völligen Stillstandes alles geistigen Lebens hervor, als wenn wir den Ausgangs- und Anhaltspunkt für unser Denken verlieren, weil uns für einen Augenblick das Bewußtsein unseres eigenen Ichs verdunkelt worden ist. Ich möchte das nicht zum zweiten Male erleben!
    Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hatte – mir schien es eine ganze Ewigkeit –, als mich wie ein Blitz die Erinnerung an alles Geschehene durchzuckte. Ich erinnerte mich, wer ich war, wo ich mich befand, und wie ich hierhergekommen. Die Szenen, die eben so frisch und lebendig vor meinem Geiste vorübergezogen waren, als ob sie sich erst gestern zugetragen hätten, bezogen sich also auf eine Generation, die schon lange, lange in Staub zerfallen war! Ich sprang aus meinem Bett, stürzte in die Mitte des Zimmers und preßte die Hände gegen meine Schläfen, in denen es hämmerte, als ob mir der Kopf zerspringen wollte. Darauf warf ich mich wieder auf mein Lager, begrub mein Antlitz in die Kissen und blieb regungslos so liegen. Ich erlebte nun die unvermeidliche Reaktion auf die seelische Erhebung, den fieberhaft angeregten Zustand meines Geistes, die ersten Wirkungen meines furchtbaren Erlebnisses für mein inneres Sein. Nun kam die seelische Krisis zum Ausbruch, die eintreten mußte, sobald ich mir meine jetzige Lage mit allen ihren Folgen deutlich vergegenwärtigen konnte. Mit fest zusammengebissenen Zähnen, schwer atmender Brust, mich krampfhaft an die Bettpfosten anklammernd, lag ich da und kämpfte um meinen gesunden Verstand. In meinem Geiste hatte nichts mehr Festigkeit und Halt. Gewohnte Gefühle, Ideenverbindungen, Vorstellungen von Personen und Dingen hatten sich aufgelöst, hatten ihren Zusammenhang verloren und wogten nun in einem

Weitere Kostenlose Bücher