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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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erzeugte. Wie soll ich die Todesangst jener Augenblicke beschreiben, in denen meine Denkfähigkeit zu schwinden schien; wie das Gefühl der Hilflosigkeit schildern, das mich in überwältigender Weise ergriff? In meiner Verzweiflung stöhnte ich laut auf. Das Gefühl dämmerte in mir empor, daß ich dem Wahnsinn verfallen sei, wenn jetzt nicht Hilfe käme. Und sie kam. Ich hörte das Rauschen eines Kleides und schaute auf: Edith Leete stand vor mir. Ihr schönes Antlitz drückte tiefempfundenes Mitgefühl aus.
    „Ach, Herr West, was fehlt Ihnen?“ fragte sie. „Ich war im Zimmer, als Sie eintraten. Ich bemerkte, wie furchtbar unglücklich Sie aussahen. Als ich Sie stöhnen hörte, konnte ich nicht länger ruhig zusehen. Was ist Ihnen zugestoßen? Wo sind Sie gewesen? Kann ich etwas für Sie tun?“ Während Edith Leete sprach, streckte sie mir, wahrscheinlich unwillkürlich, mit einer mitleidigen Gebärde ihre Hände entgegen. Ich ergriff sie und hielt sie fest, dem nämlichen instinktiven Antrieb gehorchend, der den Ertrinkenden treibt, das ihm in der letzten Minute zugeworfene Seil zu erhaschen und sich daran festzuklammern. Als ich in Ediths mitleidsvolles Gesicht und in ihre feuchten Augen blickte, kehrte Ruhe in mein aufgewühltes Gemüt zurück. Das tiefe menschliche Mitgefühl, das sich in dem sanften Drucke ihrer bebenden Hand verriet, gab mir den Halt, dessen ich bedurfte. Wie ein wundertätiges Elixier wirkte es beruhigend und besänftigend auf mich.
    „Gott segne Sie“, sagte ich nach einigen Augen blicken. „Er muß Sie gerade jetzt zu mir gesandt ha ben. Ich glaube, ich würde wahnsinnig geworden sein, wenn Sie nicht gekommen wären.“
    Bei diesen Worten traten Edith die Tränen in die Augen.
    „Oh, Herr West“, rief sie aus, „für wie herzlos müssen Sie uns gehalten haben! Wie konnten wir Sie so lange sich selbst überlassen! Aber nun ist es vorüber, nicht wahr? Gewiß fühlen Sie sich schon besser.“
    „Ja“, erwiderte ich, „dank Ihnen. Wenn Sie noch etwas hier verweilen wollen, so werde ich meine Fassung bald wiedergewonnen haben.“
    „Selbstverständlich werde ich noch nicht fortgehen“, sagte sie, während ein leichtes Zittern ihres Antlitzes mir ihr Mitgefühl besser bewies als tausend Worte. „Sie dürfen uns nicht für so herzlos halten, wie wir scheinen, weil wir Sie allein gelassen haben. Ich konnte vergangene Nacht kaum ein Auge schließen, so lebhaft stellte ich mir vor, wie seltsam Ihr Erwachen heute morgen sein müßte. Mein Vater meinte jedoch, daß Sie lange schlafen würden. Er sagte, es sei besser, Ihnen im Anfang nicht allzuviel Mitgefühl zu zeigen, sondern lieber zu versuchen, Sie zu zerstreuen und Sie vor allem empfinden zu lassen, daß Sie unter Freunden sind.“
    „Das haben Sie mich in der Tat empfinden lassen“, gab ich zur Antwort. „Aber trotz alledem erhält man einen starken Stoß, wenn man sich bewußt wird, hundert Jahre verschlafen zu haben. Gestern abend ist mir das nicht so recht zum Bewußtsein gekommen, heute morgen jedoch bin ich von höchst schmerzlichen Empfindungen überwältigt worden.“
    Während ich ihre Hand in der meinen hielt und mein Auge auf ihrem Antlitz ruhen ließ, konnte ich sogar schon ein wenig über meine Lage scherzen.
    „Niemand hätte sich träumen lassen, daß Sie so früh am Morgen allein in die Stadt gehen würden“, fuhr Edith fort. „Wo sind Sie gewesen, Herr West?“
    Genau wie ich sie eben geschildert habe, erzählte ich meine Morgenerlebnisse von meinem Erwachen an bis zu dem Augenblick, wo ich aufschauend das junge Mädchen vor mir sah. Während meines Berichtes ward Edith augenscheinlich von schmerzlichem Mitleid bewegt. Obwohl ich eine ihrer Hände losgelassen hatte, machte sie doch keinen Versuch, mir die andere zu entziehen: ohne Zweifel bemerkte sie, wie wohl es mir tat, sie zu halten. „Ich habe eine schwache Ahnung davon, was Sie gefühlt haben müssen“, sagte mir Edith Leete. „Ihre Empfindungen müssen furchtbar gewesen sein. Und zu denken, daß Sie allein waren, daß Sie den Kampf mit Ihren Eindrücken allein ausfechten mußten! Können Sie uns verzeihen?“
    „Das ist nun alles vorüber“, sagte ich. „Für diesmal haben Sie alle Angstgefühle verscheucht.“
    „Sie werden solche Gefühle nicht wiederkehren lassen?“ fragte das junge Mädchen ängstlich.
    „Das kann ich nicht bestimmt versprechen“, erwiderte ich. „Wenn ich bedenke, wie fremdartig hier noch alles für mich sein muß,

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