Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
allgemeiner Brauch gewesen zu sein, Zeugnisse auch Unbefähigten zu erteilen, die dann irgendeinen liberalen Beruf ausübten. Unsere Lehranstalten sind dagegen Nationalinstitute, und ihre Prüfung bestanden zu haben, ist der Nachweis einer ausgesprochenen, unzweifelhaften Befähigung für den betreffenden Beruf. Die Gelegenheit, sich in einem gelehrten oder künstlerischen Beruf auszubilden“, fuhr der Doktor fort, „steht jedem bis zum Alter von fünfunddreißig Jahren offen. Ältere Studierende werden nicht mehr aufgenommen, da andernfalls der Zeitraum zu kurz würde, in dem sie der Nation durch Ausübung ihres Berufs nützen könnten. Sie dürfen nicht vergessen, daß bei uns mit dem erreichten fünfundvierzigsten Jahre die allgemeine Arbeitspflicht ein Ende hat. Zu Ihrer Zeit mußten die jungen Leute sich schon sehr früh für eine Beschäftigung entscheiden, daher verfehlten sie ungemein oft ihren Beruf ganz und gar. Heutzutage sieht man jedoch ein, daß sich die natürlichen Fähigkeiten bei diesem schnell, bei jenem aber langsam entwickeln. Deshalb kann die Wahl eines Berufs zwar schon mit vierundzwanzig Jahren stattfinden, unter Umständen aber auch erst später und bis zum fünfunddreißigsten Jahre. Ich muß hinzufügen, daß bis zu demselben Alter jedermann auch das Recht zusteht, einen zuerst gewählten Beruf mit einem anderen zu vertauschen, den er später vielleicht vorzieht.“
Endlich kam ich dazu, eine Frage auszusprechen, die mir schon ein dutzendmal auf den Lippen geschwebt hatte. Sie betraf den Punkt, der zu meiner Zeit als der schwierigste für die endgültige Lösung des wirtschaftlichen Problems angesehen worden war. „Es ist höchst merkwürdig“, sagte ich, „daß Sie bis jetzt noch mit keinem Worte erwähnten, auf welche Weise die Entlohnung festgesetzt wird. Da die Nation der einzige Unternehmer ist, so muß auch die Regierung über die Höhe der Entlohnung entscheiden; sie muß bestimmen, wieviel jeder, vom Arzt bis zum Taglöhner, verdienen soll. Ich kann nur sagen, daß im neunzehnten Jahrhundert eine derartige Ordnung der Dinge undurchführbar gewesen wäre, und ich kann auch nicht begreifen, wie sie heute durchführbar ist – es sei denn, die menschliche Natur hätte sich geändert. Zu meiner Zeit war niemand mit seinem Lohne oder Gehalt zufrieden. Sogar wenn er wußte, daß er selbst genug erhielt, war er doch davon überzeugt, daß sein Nachbar zuviel hatte, und dieses Gefühl erzeugte auch Unzufriedenheit. Die allgemeine Unzufriedenheit, die in dieser Beziehung herrschte, zersplitterte damals in Verwünschungen und Streiks gegen unzählige Unternehmer. Hätte sie sich statt dessen auf einen einzigen Arbeitgeber konzentriert, nämlich auf die Regierung, so würde diese nicht zwei Zahltage überdauert haben, und wäre sie noch so stark gewesen.“
Doktor Leete lachte herzlich.
„Sehr wahr, sehr wahr!“ sagte er. „Höchstwahrscheinlich würde schon nach dem ersten Zahltag ein allgemeiner Streik ausgebrochen sein, und ein Ausstand gegen die Regierung ist eine Revolution.“
„Wie verhüten Sie denn, daß nicht an jedem Zahltag eine Revolution ausbricht?“ fragte ich. „Hat ein wunderbar begabter Philosoph ein neues System der Schätzung erfunden; nach dem man zur Zufriedenheit aller den genauen und vergleichsweisen Wert einer jeden Arbeit berechnen kann, mag sie mit den Muskeln oder mit dem Hirn, mit der Hand, der Stimme, dem Auge oder dem Ohre verrichtet werden? Oder hat sich vielleicht die menschliche Natur selbst verändert, so daß niemand mehr auf seinen eigenen Vorteil achtet, sondern nur auf den seines Nächsten? Ohne das eine oder andere kann ich mir die heutige Ordnung der Dinge nicht erklären.“
„Weder das eine noch das andere ist geschehen“, gab mein Wirt lachend zur Antwort. „Aber nun, Herr West“, unterbrach er sich, „müssen Sie daran denken, daß Sie nicht nur mein Gast sind, sondern auch mein Patient. Sie müssen mir schon gestatten, daß ich Ihnen zu schlafen verordne, ehe wir unser Gespräch fortsetzen. Es ist drei Uhr vorüber.“
„Ihre Verordnung ist sehr weise“, sagte ich, „und ich will nur hoffen, daß ich sie befolgen kann.“
„Dafür lassen Sie mich sorgen“, erwiderte der Dok tor. Damit reichte er mir ein Weinglas mit einem Trank, der mich in Schlaf versetzte, kaum daß mein Haupt auf das Kissen gesunken war.
8. Kapitel
Dem Wahnsinn nahe
Bei meinem Erwachen fühlte ich mich sehr erfrischt und blieb eine Weile im
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