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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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erwiderte Doktor Leete. „Soll te es dennoch vorkommen, daß wir unseren Anteil durch außerordentliche Ausgaben aufbrauchen, so können wir einen beschränkten Vorschuß auf den Kredit des nächsten Jahres erhalten. Jedoch wird dies nicht gern gesehen und ist mit großen Abzügen verbunden, um solcher Gebarung von vornherein Einhalt zu tun. Wenn jemand sich als sorgloser Verschwender erweist, so erhält er Kreditkarten, die auf monatliche oder wöchentliche Abrechnung lauten; im Notfall würde es ihm überhaupt nicht gestattet werden, seinen Anteil an der Nationalproduktion selbst zu verwalten.“
    „Was Sie von Ihrem Guthaben nicht verbrauchen, legen Sie wohl auf die Seite und lassen es anwachsen?“ fragte ich weiter.
    „Das kann man innerhalb gewisser Grenzen tun, wenn man nämlich eine außerordentliche Ausgabe voraussieht“, erwiderte Doktor Leete. „Macht man jedoch von einer solchen keine Meldung, so wird angenommen, daß man seinen Kredit nicht erschöpfte, weil weder die Bedürfnisse noch die Umstände weitere Ausgaben veranlaßten. Der Rest des Guthabens wird dann zu dem allgemeinen Überschuß geschlagen.“
    „Ein solches System ermutigt die Bürger gerade nicht zur Sparsamkeit“, warf ich ein.
    „Das soll es auch nicht“, lautete die Antwort. „Die Nation ist reich, und sie wünscht keineswegs, daß sich jemand eine Annehmlichkeit versage. Zu Ihrer Zeit waren die Menschen gezwungen, Geld und Gut zusammenzusparen, um gegen einen etwaigen Verlust ihrer Existenzmittel geschützt zu sein und für ihre Kinder zu sorgen. Die Notwendigkeit machte das Sparen zur Tugend. Jetzt würde es jedoch kein so löbliches Ziel haben, und da die Sparsamkeit zwecklos geworden ist, gilt sie auch nicht länger für eine Tugend. Niemand sorgt mehr seinetwegen oder seiner Kinder wegen für den morgigen Tag. Die Nation verbürgt einem jeden von der Wiege bis zum Grabe Ernährung, Erziehung und eine angenehme Lebenshaltung.“
    „Das ist eine unsichere Bürgschaft“, sagte ich. „Welche Gewißheit ist denn vorhanden, daß die Arbeit eines Menschen so viel wert ist, um die Nation für alle ihre Auslagen zu entschädigen? Alles in allem mag die Gesellschaft wohl imstande sein, ihren sämtlichen Gliedern den Unterhalt zu gewähren, aber gewiß ist, daß manche weniger verdienen, als zu ihrem Unterhalt hinreicht, und andere wieder mehr, als sie gebrauchen. Und damit wären wir wieder bei der Frage der Entlohnung angelangt, von der Sie mir bis jetzt noch nicht gesprochen haben. Wie Sie sich erinnern werden, brach unser gestriges Gespräch gerade bei diesem Punkte ab. Ich wiederhole, was ich schon gestern sagte. Für eine nationale Wirtschaftsordnung wie die Ihrige muß meiner Meinung nach die Hauptschwierigkeit in der Lösung dieser Frage liegen. Wie, so frage ich nochmals, können Sie die Löhne und Gehälter in befriedigender Weise festsetzen, so daß sie in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen? Es handelt sich doch um die Tätigkeit in einer unendlichen Anzahl Berufe, die nichts miteinander gemein haben, die aber alle zum Gedeihen der Gesellschaft nötig sind. Zu meiner Zeit bestimmten die Marktverhältnisse ebensowohl den Preis jeder Art Arbeit wie aller Waren. Der Unternehmer bezahlte so wenig Lohn, wie er nur konnte, und der Arbeiter suchte so viel Lohn wie möglich zu erhalten. Moralisch betrachtet, war die damalige Ordnung nichts weniger als schön, das gebe ich zu. Allein ‚sie gab uns wenigstens eine rohe, fertige Formel zur Entscheidung einer Frage, die jeden Tag zehntausendmal entschieden werden mußte, wenn die Welt überhaupt ihren Gang gehen und vorwärtskommen sollte. Es schien uns keinen anderen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu geben.“
    „Gewiß“, erwiderte Doktor Leete, „es war der einzi ge gangbare Weg unter einer Ordnung, die die Interessen der einzelnen in feindseligen Gegensatz zueinander brachte. Aber es wäre traurig, wenn die Menschheit nie eine bessere Ordnung ersonnen und verwirklicht hätte. Ihrer Gesellschaftsordnung lag für die Beziehungen der Menschen untereinander lediglich des Teufels Moral zugrunde: ‚Deine Not ist mein Nutzen.’ Die Arbeiten wurden nicht etwa nach ihrer Schwierigkeit, Gefahr oder Unannehmlichkeit entlohnt. Allem Anschein nach waren es in der ganzen Welt gerade die am schlechtesten bezahlten Klassen von Arbeitern, die die gefährlichsten, schwersten und widerwärtigsten Beschäftigungen verrichten mußten. Der Preis der Arbeit hing lediglich davon ab,

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