Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Blutsverwandtschaft selbst.
Doch selbst wenn ich von dieser Erwägung absehe, kann ich Ihre Überraschung nicht begreifen, daß Arbeitsunfähigen das volle Recht zusteht, von den Erzeugnissen der Leistungstüchtigen zu leben. Die militärische Dienstpflicht Ihrer Zeit zum Schutze der Nation entsprach unserer Arbeitspflicht. Obwohl sie für alle Wehrtüchtigen zwingend war, begriff sie keineswegs in sich, daß die Dienstuntauglichen ihrer Bürgerrechte beraubt wurden. Sie blieben zu Hause und wurden von denen beschützt, die in den Kampf zogen, ohne daß deswegen jemand ihr Existenzrecht in Frage stellte oder geringer von ihnen dachte. Die Nutzanwendung für unseren Fall liegt nahe. Wenngleich sich alle arbeitsfähigen Glieder der Nation der allgemeinen Arbeitspflicht unterwerfen müssen, so bedeutet das doch nicht, daß Arbeitsunfähige ihres Bürgerrechts verlustig gehen, und dieses begreift das Recht auf Unterhalt in sich. Der Arbeiter ist nicht Bürger, weil er arbeitet, sondern er arbeitet, weil er Bürger ist. Wie man zu Ihrer Zeit die Pflicht des Starken anerkannte, für den Schwachen zu kämpfen, so anerkennen wir jetzt, wo aller Kampf vorbei ist, seine Pflicht, für ihn zu arbeiten.
Die Lösung einer Frage, die einen nicht aufgehenden Rest übrigläßt, ist überhaupt keine Lösung. Auch unsere Lösung des sozialen Problems wäre keine solche, wenn sie es den Lahmen, Blinden und Krüppeln überließe, sich wie wilde Tiere durchzuschlagen, so gut es eben ginge. Es würde wahrhaftig noch besser sein, die Gesunden und Starken sich selbst zu überlassen, als diese Mühseligen und Beladenen, für die jedes Herz blutet und für deren körperliches und geistiges Wohlbefinden vor allem gesorgt werden muß. Das Recht jedes Mannes, jedes Weibes und jedes Kindes auf volle Existenzmittel durch die Gesellschaft beruht auf der sicheren, breiten und einfachen Grundlage der Tatsache, daß sie alle Glieder der einen großen menschlichen Familie sind. In unserer Gesellschaft gibt es eine einzige gangbare Münze: Gottes Ebenbild zu sein. Wer das ist, mit dem teilen wir alle Errungenschaften unserer Kultur.
Meinem Empfinden nach ist es der abstoßendste Zug in der Kultur Ihrer Zeit, daß die Schwächsten und Fürsorgebedürftigsten vernachlässigt wurden. Nehmen wir an, daß Ihren Zeitgenossen das Gefühl des Mitleids und der Brüderlichkeit fremd war. Hatten sie dann aber kein Verständnis dafür, daß sie die Schwachen ihres guten Rechts beraubten, indem sie nicht für sie sorgten?“
„Ich kann Ihnen bei diesem Gedankengang nicht folgen“, sagte ich. „Wohl gebe ich den Anspruch der armen Arbeitsunfähigen auf unser Mitgefühl zu. Allein ich kann nicht begreifen, daß Leistungsunfähige einen Anteil an den Früchten der nationalen Arbeit als ihr gutes Recht fordern sollen.“
„Wie kam es denn“, fragte Doktor Leete, „daß die Arbeiter Ihrer Zeit mehr zu produzieren vermochten als eine gleich große Anzahl von Wilden? War es nicht einzig und allein darum möglich, weil sie die Kenntnis se und Errungenschaften vergangener Geschlechter geerbt hatten, weil sie den ganzen gesellschaftlichen Mechanismus fix und fertig überkamen, der das Werk von Jahrtausenden war? Wie gelangten sie in den Besitz der Kenntnisse und des Mechanismus, dem sie neun Zehntel vom Wert ihres Arbeitsprodukts verdankten? Sie hatten beides geerbt, nicht wahr? Und waren nicht die unglücklichen und gebrechlichen Brüder, die sie von sich stießen, ihre gleichberechtigten Miterben? Was haben sie mit dem Erbteil getan? Machten sie sich keines Raubes schuldig, wenn sie Leute mit Brosamen abspeisten, die das Recht hatten, unter den Erben zu sitzen, und fügten sie dem Raube nicht noch den Schimpf hinzu, wenn sie diese Brosamen Almosen nannten?“
„O Herr West“, fuhr Doktor Leete fort, als ich nicht antwortete, „eines kann ich nicht verstehen, selbst wenn ich von allen Gründen der Gerechtigkeit und dem Gefühl brüderlicher Liebe für alle Gebrechlichen und Schwachen absehe! Wie war es nur möglich, daß die Arbeiter Ihrer Zeit voller Freudigkeit an ihr Werk gingen, da sie doch wußten, daß ihre Kinder und Kindeskinder, falls auf diese das harte Los fiel, schwach und gebrechlich zu sein, alle Annehmlichkeiten des Lebens, ja sogar die notwendigsten Existenzmittel entbehren mußten? Es ist mir unverständlich, wie Eltern für eine Gesellschaftsordnung eintreten könnten, die dem Fähigeren einen Vorzug vor dem körperlich oder geistig
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