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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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müssen recht wohltuend davon berührt werden.“
    „Die Mildtätigkeit!“ wiederholte Doktor Leete. „Glauben Sie vielleicht, daß wir die Untauglichen als Objekte für unser Wohltun betrachten?“
    „Nun natürlich“, sagte ich, „denn sie sind doch nicht fähig, sich ihren Unterhalt aus eigener Kraft zu sichern.“
    Kaum hatte ich diese Bemerkung fallen lassen, als mich auch schon der Doktor lebhaft unterbrach.
    „Wer ist denn fähig, seinen Unterhalt aus eigener Kraft zu sichern?“ fragte er. „In einer zivilisierten Gesellschaft gibt es nichts dergleichen wie eine Existenz aus eigener Kraft. Auf einer Kulturstufe, die so barbarisch ist, daß sie noch nicht einmal ein Zusammenwirken der Familienglieder kennt, kann möglicherweise jeder einzelne sich aus eigener Kraft erhalten, obwohl auch dann nur während eines Abschnitts in seinem Leben. Jedoch die Existenz der einzelnen aus eigener Kraft wird ein Ding der Unmöglichkeit von dem Augenblick an, wo die Menschen anfangen zusammenzuleben und auch nur die roheste Art einer Gesellschaft zu begründen. Mit der steigenden Kultur und der zunehmenden Arbeitsteilung wird eine vielverschlungene gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander zur allgemeinen Regel. Mag auch die Betätigung des einzelnen noch so in sich abgeschlossen erscheinen: jeder ist ein Glied einer unendlich großen wirtschaftlichen Gemeinschaft, die die ganze Nation, ja die ganze Menschheit umfaßt. In diesem Zusammenhang ist eine gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen untereinander begründet, die die Erfüllung der Pflicht gegenseitiger Unterstützung verbürgen sollte. Daß dies zu Ihrer Zeit keineswegs der Fall war, darin bestand die eigentliche Grausamkeit und Unvernunft Ihrer damaligen Gesellschaftsordnung.“
    „Das mag alles seine Richtigkeit haben“, versetzte ich, „es besagt jedoch gar nichts über das Recht jener Unglücklichen, die unfähig sind, ihr Teil zur allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit beizutragen.“
    „Habe ich Ihnen, heute morgen nicht erklärt, es scheint mir wenigstens so“, erwiderte Doktor Leete, „daß das Recht jedes einzelnen auf seinen Platz am Tische der Nation in einer einzigen Tatsache beruht? Nämlich darin, daß er ein Mensch ist und der Gemeinschaft gibt, was er zu geben vermag! Das Maß seiner Kraft und Fähigkeit kann dabei nicht entscheidend sein.“
    „Das sagten Sie mir allerdings“, antwortete ich, „al lein ich nahm an, dieser Grundsatz gelte nur für Arbeiter von verschiedenem Leistungsvermögen. Hat er denn auch für Leute Geltung, die gar nichts leisten können?“
    „Sind sie nicht auch Menschen?“ fragte der Doktor zurück.
    „Ich soll Sie also dahin verstehen, daß Lahme, Blinde, Kranke und Gebrechliche ebensogut gestellt sind wie die leistungsfähigsten Arbeiter und dasselbe Einkommen wie ; sie beziehen?“
    „Gewiß“, lautete die Antwort.
    „Die Vorstellung einer so grenzenlos weitherzigen Wohltätigkeit hätte unsere schwärmerischsten Philanthropen starr vor Staunen gemacht“, versetzte ich.
    „Wenn Sie daheim einen kranken, arbeitsunfähigen Bruder hätten“, sagte Doktor Leete, „würden Sie ihn wohl armseliger nähren, kleiden und wohnen lassen als sich selbst? Im Gegenteil! Ich halte es für weit wahrscheinlicher, daß Sie danach trachten würden, ihm das Beste zu bieten. Es wird Ihnen nicht im Traume einfallen, Ihre Handlungsweise Wohltätigkeit zu nennen. Ja, noch mehr, Sie würden es mit Entrüstung zurückweisen, wollte jemand dieses Wort auf Ihr Handeln anwenden.“
    „Natürlich“, sagte ich, „nur vergessen Sie, daß beide Fälle einander nicht gleich sind. Ohne Zweifel sind in einem gewissen Sinne alle Menschen Brüder, aber diese allgemeine Bruderschaft kann wohl nur für rhetorische Zwecke mit der Bruderschaft des Blutes verglichen werden. Sie hat mit ihr weder die Gefühle noch die Verpflichtungen gemein.“
    „Aus Ihnen spricht das neunzehnte Jahrhundert!“ rief Doktor Leete aus. „Ja, Herr West, es unterliegt keinem Zweifel, daß Sie sehr lange geschlafen haben. Wenn ich Ihnen in einem Satze den Schlüssel zu dem Unbegreiflichen geben sollte, das für einen Mann Ihrer Zeit in unserer Kultur liegen muß, so würde ich sagen: Für Sie war die Tatsache der Solidarität und Brüderlichkeit der ganzen Menschheit nur eine schöne Phrase. Uns dagegen ist sie in Fleisch und Blut übergegangen. Für unser Denken und Fühlen schafft sie ebenso wirkliche und starke Bande wie die

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