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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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das Publikum zu bringen. Diese absolute Gleichheit würde sicherlich in Ihren Tagen ungemein geschätzt worden sein; wenigstens lassen die Klagen Ihrer zeitgenössischen Schriftsteller darauf schließen.“
    „Das nämliche Prinzip ist wohl auch für die Wertung des Verdienstes auf anderen Gebieten maßgebend, für die außerordentliche geistige Begabung Voraussetzung ist, wie zum Beispiel in der Musik, den bildenden Künsten, der Technik?“ sagte ich.
    „Jawohl“, erwiderte Doktor Leete, „doch erfährt es im einzelnen manche Abweichungen. In Malerei und Bildhauerkunst zum Beispiel ist das Volk wie in der Literatur der alleinige Richter. Es entscheidet durch Abstimmung darüber, ob Gemälde und Skulpturen in unsere öffentlichen Gebäude aufgenommen werden. Beurteilt es das Werk eines Künstlers günstig, so wird dieser von allen anderen Arbeiten befreit und kann ganz seiner Kunst leben. Kopien seiner Schöpfung, die von der Nation verkauft werden, verschaffen ihm die gleichen Vorteile, die ein Autor durch den Verkauf seiner Werke gewinnt. Für alle Gebiete geistigen Schaffens, die angeborene Begabung heischen, verfolgt man ein und dasselbe Ziel: allen Strebenden ein freies Feld für ihre Betätigung zu eröffnen und dem außergewöhnlichen Talent alle Fesseln abzunehmen, ihm vollste Entwicklungsmöglichkeit zu sichern. Die Befreiung von der allgemeinen Arbeitspflicht ist in diesen Fällen nicht als Geschenk oder Belohnung aufzufassen, sondern als Mittel, mehr und vollendetere Leistungen zu ermöglichen. Natürlich haben wir verschiedene hohe Körperschaften – Akademien für Wissenschaft, bildende Kunst und Literatur –, deren Mitgliedschaft nur berühmten Männern verliehen wird, und die deshalb in hohem Ansehen steht. Nur hervorragenden Gelehrten, Künstlern, Technikern wird die höchste Ehre zuteil, die die Nation zu vergeben hat, und die sogar mehr als die Präsidentenwürde geschätzt wird, denn diese kann man durch offenen Verstand und treue Pflichterfüllung erwerben. Es ist die Zuerkennung des ‚roten Bandes’, das den großen Schriftstellern, Gelehrten, Künstlern, Ingenieuren, Ärzten, Erfindern usw. durch Volksabstimmung verliehen wird. Nicht über hundert tragen es zu gleicher Zeit, obgleich jeder fähige und strebsame jun ge Mann im Lande ungezählte schlaflose Nächte von die ser Ehre träumt. Mir selbst ist es nicht anders ergangen.“
    „Als ob Mama und ich mehr von dir halten würden, wenn du das ‚rote Band’ bekommen hättest“, rief Edith aus. „Womit ich natürlich nicht sagen will, daß es nicht sehr schön sei, das Band zu besitzen.“
    „Mein liebes Kind, du hattest keine Wahl“, erwider te Doktor’ Leete heiter. „Du mußtest deinen Vater nehmen, wie er war, und dir das Beste aus ihm zu machen suchen. Aber deine Mutter wäre nie die Meine geworden, hätte ich nicht versichert, daß ich das ‚rote Band’ erringen würde.“
    Frau Leetes einzige Antwort auf diese gewagte Behauptung war ein Lächeln.
    „Unter welchen Bedingungen erscheinen bei Ihnen Zeitschriften und Zeitungen?“ fragte ich weiter. „Ich will nicht leugnen, daß Ihre Regelung des Buchverlags vor der in meiner Zeit bedeutende Vorzüge aufweist. Sie wirkt darauf hin, die wahren Talente zu ermutigen und – was ebenso wichtig ist – Leute, zu entmutigen, die es doch nicht weiter als zum elenden Skribenten bringen würden. Allein ich verstehe nicht, wie die nämlichen Bedingungen auch für das Erscheinen von Zeitschriften und Zeitungen gelten können. Man kann wohl durchsetzen, daß ein Verfasser die Druckkosten seines Buches trägt, weil das eine einmalige Ausgabe ist, die sich nicht zu oft wiederholt. Wem aber wäre es möglich, die Kosten für das Erscheinen einer täglichen Zeitung aufzubringen? Um sie zu tragen, bedurfte es der tiefen Taschen unserer Privatkapitalisten, und auch sie wurden oft gründlich geleert, ehe sich ein Zeitungsunternehmen bezahlt machte. Wenn Sie heute überhaupt Zeitungen haben, so müssen sie, meine ich, von der Regierung auf allgemeine Kosten herausgegeben werden. Die Regierung wird es auch sein, die die Redakteure ernennt, und diese müssen natürlich die Ansichten der Regierung vertreten. Eine solche Regelung mag sich bewähren, wenn eine soziale Ordnung so vollkommen ist, daß es nie das geringste an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zu tadeln gibt. Ist dies jedoch nicht der Fall, so muß es nach meiner Ansicht die verhängnisvollsten Folgen zeitigen, wenn es

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