Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Fortschritte im Wissen.
„Die Erziehung“, erklärte Doktor Leete, „ist für den Körper der Jugend ebenso verantwortlich wie für den Geist. Unsere Erziehung, die vom sechsten bis zum einundzwanzigsten Jahre dauert, verfolgt dies doppelte Ziel: jedem die höchstmögliche leibliche und geistige Entwicklung zu sichern.“
Die prächtige Gesundheit der Jugend in den Erziehungsanstalten machte einen tiefen Eindruck auf mich. Schon früher war mir das ungemein vorteilhafte Äußere der Familie meines Wirts und der Leute aufgefallen, die ich auf meinen Spaziergängen gesehen hatte. Fast unwillkürlich hatte sich müder Gedanke aufgedrängt, daß sich seit meiner Zeit der Durchschnitt der körperlichen Entwicklung und Schönheit des Menschengeschlechts ganz bedeutend gehoben haben müsse. Als ich jetzt die staatlichen jungen Burschen und die kräftigen, frischen Mädchen mit der Jugend meiner Zeit verglich, ward ich in meiner Vermutung bestärkt, und konnte nicht umhin, sie Doktor Leete mitzuteilen. Mit großem Interesse hörte er mir zu.
„Dieses Ihr Zeugnis ist geradezu unschätzbar“, erklärte er. „Wohl sind auch wir der Überzeugung, daß sich die Menschheit, wie Sie sagen, körperlich gehoben und veredelt hat, allein wir konnten dies nur auf Grund bloßer theoretischer Schlußfolgerungen behaupten. Ihre eigenartige Lage bringt es mit sich, daß Sie der einzige in der Welt sind, der sich darüber mit Autorität äußern kann. Ich bin sicher, daß Ihr Urteil das größte Aufsehen erregen wird, wenn Sie es öffentlich aussprechen. Übrigens wäre es recht sonderbar, wenn das Menschengeschlecht sich nicht bedeutend veredelt haben würde. Zu Ihrer Zeit ließ der Reichtum die eine Klasse der Gesellschaft durch körperlichen und geistigen Müßiggang entarten, während die Armut durch übermäßige Arbeit, elende Nahrung und ungesunde Wohnungen die Lebenskraft der großen Massen untergrub. Die von den Kindern erzwungene Arbeit und die den Frauen auferlegten Lasten zehrten an den Quellen des Lebens. An die Stelle so unheilvoller Verhältnisse sind heute für alle die denkbar günstigsten Lebensbedingungen getreten. Die Jugend wird sorgfältig ernährt, gehegt und gepflegt. Die Arbeit, die von allen verlangt wird, fällt in die Jahre der größten körperlichen Rüstigkeit und überschreitet nie ein gewisses Maß. Man kennt heute nicht mehr alle jene Einflüsse, die zu Ihrer Zeit so viel dazu beitrugen, daß Körper und Geist der Männer und Frauen zugrunde gerichtet wurden. Die Sorge um das eigene ungewisse Geschick und um das der Familie, das Ringen um das tägliche Brot, kurz, die aufreibende Hatz des nie rastenden Kampfes ums Dasein, all das ist heute unbekannt. Solche Veränderungen mußten natürlich eine Veredelung der Art bewirken. Wir wissen auch genau, daß besonders in gewisser Beziehung ein großer Fortschritt stattgefunden hat. Der Irrsinn zum Beispiel, der im neunzehnten Jahrhundert eine erschreckend häufige Folge Ihrer wahnwitzigen Lebensbedingungen war, ist fast gänzlich verschwunden und mit ihm sein Seitenstück, der Selbstmord.“
22. Kapitel
Die Überlegenheit der sozialistischen Produktivität
Wir hatten verabredet, mit den Damen in der Speise halle zum Mittagessen zusammenzutreffen. Da die beiden zu tun hatten, verließen sie uns nach Tisch, während Dok tor Leete und ich uns noch bei Wein und Zigarren über gar mancherlei Fragen unterhielten.
„Herr Doktor“, bemerkte ich im Laufe unserer Plauderei, „vom moralischen Standpunkt aus ist Ihre Gesellschaftsordnung so vollkommen, daß ich von Sinnen sein müßte, wollte ich sie nicht aufrichtig bewundern. Sie ist jeder gesellschaftlichen Organisation überlegen, die früher in der Welt bestanden hat, ganz besonders aber der meines unglückseligen Jahrhunderts. Sollte ich heute abend wieder in einen hundertjährigen Starrkrampf verfallen, sollte die Zeit unterdessen rückwärts, statt vorwärts gehen, so daß ich wieder im neunzehnten Jahrhundert erwachte, so dürften Sie eines versichert sein: jeder meiner Freunde, dem ich meine Erlebnisse erzählte, würde sicherlich zugeben, daß Ihre Welt ein Paradies der Ordnung, der Gerechtigkeit und des Glückes sei. Aber meine Zeitgenossen waren ein sehr praktisches Volk. Nachdem sie ihrer Bewunderung für die moralische Schönheit und den materiellen Glanz Ihrer Gesellschaftsordnung Ausdruck verliehen hätten, würden sie sofort zu rechnen beginnen und fragen, woher Sie die Mittel nehmen, um
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