Ein schicksalhafter Sommer
entschuldigt und ihr versichert, dass er seine Worte gestern Abend nicht so gemeint hatte. Obwohl Sofia bezweifelte, dass er die Wahrheit sprach, war sie nicht mehr ganz so verletzt, denn als er sich so reumütig entschuldigt hatte, da hatte sie gespürt, dass er sie trotzdem liebte. Und so würde sie sich eben noch etwas mehr anstrengen müssen, um ihm gerecht zu werden.
Nein, der Streit mit Georg war es eigentlich nicht, der sie heute so beschäftigte. Es war die Erkenntnis, wie schlecht sie selber im Grunde ihres Herzens über ihre eigene Familie dachte, die sie so traurig machte. Sie liebte ihre Familie über alles. Wirklich. Und es hatte sie immer getroffen, dass andere so abfällig über sie dachten. Aber gestern Abend, als sie auf der Bank lag und so traurig war, weil ihr Mann ihre Familie so arg beschimpfte wie nie zuvor, und sich sein Zorn auch auf sie erstreckte, da war ihr bewusst geworden, dass sie all die Jahre mitleidig auf ihre Familie herabgesehen hatte, sich aber nicht dazugezählt hatte.
Sie wollte nicht von den anderen Leuten im Dorf mit ihrer Familie über einen Kamm geschert werden. Sofia wusste, was die anderen Leute von ihrer Familie hielten. Sie wusste, dass sie über sie die Nase rümpften, sie für armes Pack hielten und dass sie über Papa herzogen. Oft genug schämte sie sich, wenn Mama wieder einmal viel zu laut über den ganzen Kirchplatz schrie, wenn sie eine Bekannte erspäht hatte. Oder wenn die Leute über Katrin den Kopf schüttelten, weil sie so gar nichts aus sich machte, fürchterliche Kleidung trug und so gar keine leichte Unterhaltung zu führen wusste. Wenn Papa wieder einen Narren aus sich machte, weil er von irgendetwas erzählte, von dem er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte und dabei noch auf seinem Recht beharrte. Sofia wusste, dass ihre Eltern einfache Leute waren. Oder auch nicht einfach. Denn irgendetwas hatten sie alle an sich, was einfach die Aufmerksamkeit auf sie zog. Doch leider gereichte ihnen das nicht zur Ehre. Eher sorgten sie regelmäßig für Gesprächsstoff.
Sofia hatte in ihrem Inneren immer gewusst, dass sie nicht so war. Sicher, auch ihre Manieren waren nicht die besten gewesen, aber es war ihr bewusst gewesen. Und es war ihr unangenehm. Und darum hatte sie immer unermüdlich daran gearbeitet, dass sie endlich etwas aus sich machte. Und als sie sich in Georg verliebte, und er sich sogar in sie, und er sie geheiratet hatte, da war sie sich sicher gewesen, dass sie immer richtig vermutet hatte. Sie hob sich von ihrer Familie ab.
Fortan arbeitete sie noch härter an sich, las alle möglichen Bücher und holte sich Rat bei Georg und ihren Schwiegereltern. Sie wollte etwas aus sich machen und sie hatte es geschafft.
Aber das Verrückte war, so sehr sie sich anstrengte, anders zu sein, sobald sie wieder zu Hause bei ihrer Familie war, dann sah sie nicht das, was die anderen Leute sahen. Wenn sie wieder in dem abgelegenen Heim ihrer Kindheit war, fühlte sie sich wohl, sie fühlte sich als eine von ihnen. Sie war zufrieden mit ihrer Familie, sie liebte alle, so wie sie waren, und wollte sie auch nicht ändern.
Gestern Abend, als sie nach ihrem Streit mit Georg allein auf der Bank lag, da hatte sie das erste Mal so richtig über all das nachgedacht. Und sie hatte sich verachtet dafür, dass sie sich manchmal vor anderen für ihre Eltern schämte, wo es doch herzensgute Menschen waren, die sie liebten. Und die sie liebte.
War sie deshalb eine Heuchlerin?
Sie sah erschrocken an sich herunter, als plötzlich etwas ihr Bein streifte. „Hennes!“ Sofia fasste in das zottelige Fell zu beiden Seiten seines Gesichtes und verwuschelte es liebevoll. „Dir ist es auch egal, was andere von dir denken, nicht wahr?“ Nachdenklich streichelte sie den Kopf des Hundes. Ein Schatten fiel plötzlich auf Hennes, und Sofia sah auf. Ihre Schwester setzte sich neben sie auf die Bank.
„Danke für das Buch.“
„Nimm es dir zu Herzen“, scherzte Sofia mit Galgenhumor.
„Ich hab kurz gedacht, du wärst wirklich wegen dem Buch gekommen. Aber nicht lange.“ Katrin strich ihrer Schwester eine Locke aus der Stirn. „Was ist los?“
„Ach, Katrin. Nichts ist los.“ Unwillig schüttelte Sofia den Kopf. „Eigentlich sollte ich gar nicht mit dir reden. Du bist der Grund, warum ich Streit mit Georg hatte.“
„Ich? Lass mich aus euren Eheproblemen raus.“
„Ja, vergiss es.“ Sofia vermied es, ihre Schwester anzusehen. „Kannst du dich auch manchmal selbst nicht
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