Ein schöner Ort zu sterben
kommandierende Generäle im Burenkrieg. Meine Familie ist noch echtes Volk.«
Emmanuel antwortete nicht. Er bedachte Louis mit einem langen Blick. Die Schwarzen hatten vollkommen recht. Louis und seine Mutter teilten denselben überwältigenden Stolz auf die kapholländische Blutlinie ihrer Familie und die Überzeugung der geistigen Überlegenheit. Wenn Hochmut vor dem Fall kommt, dachte Emmanuel, dann würden sich Louis und seine Mutter bei ihrem Sturz in die Hölle eine ziemlich blutige Nase holen.
»Sind Sie gekommen, um das fehlende Teil für Ihr Motorrad abzuholen?«, fragte Emmanuel. Er musste unwillkürlich an das Rattern denken, das er vor der Hütte gehört hatte, kurz bevor er ohnmächtig geworden war. War das möglicherweise ein Motorrad gewesen?
»Ist noch nicht da«, sagte Louis.
Emmanuel warf einen verstohlenen Blick die Straße hinunter und sah, wie auf der Veranda vor der Wache Dickie herumlungerte und sich eine Zigarette anzündete. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Kaffernpfad verdrückte.
»Vielleicht haben Sie ja heute Glück«, sagte er zu Louis und wandte sich zum Gehen. Der Nachmittag flog nur so dahin, und er musste noch die Akten aus ihrem Versteck holen und lesen.
»Detective …«, rief Louis ihm nach.
Emmanuel drehte sich um und blickte den Jungen an, der schon halb auf der Treppe zum Postamt stand.
»Hatte ich fast vergessen. Meine Brüder suchen nach Ihnen.«
»Die finden mich noch früh genug«, antwortete Emmanuel. Er drehte sich um und lief die Piet Retief Street hinunter, vorbei an den Geschäften der Weißen. Er musste auf den Kaffernpfad kommen, bevor er Pretorius Farm Supplies, Moira’s Hairstyles und die Werkstatt erreichte. Die Familie des Captains war allgegenwärtig.
Am Durchgang zum Kaffernpfad blieb er stehen und warf einen kurzen Blick zurück. Louis hatte sich nicht gerührt und starrte ihm mit derselben Eindringlichkeit nach, mit der seine Mutter die Polizeiakten fixiert hatte. Dann winkte der Junge zum Abschied und verschwand im Gebäude.
Drinnen im Postamt sortierten die kaffeebraune Miss Byrd und die rosafarbene Miss Donald die Post nach Rassenzugehörigkeit und verkauften Briefmarken. Draußen auf dem Kaffernpfad dachte Emmanuel über Louis nach. Wegen des Jungens und seiner Zukunft musste es im Haus der Familie Pretorius Spannungen gegeben haben. Mrs. Pretorius sah in Louis einen heiligen Propheten. Ein Pragmatiker wie Willem Pretorius aber hatte in dem Jungen bestimmt etwas anderes gesehen.
12
Die Äste des Zitronenbaums hinter Poppies General Store brachen das Sonnenlicht und hinterließen auf den Vernehmungsprotokollen ein Schattenmuster. Sechs Monate Perversität und Gewalt und keine Erkenntnisse.
Emmanuel überprüfte noch einmal die Daten. Es gab zwei klar abgegrenzte Zeitspannen, an denen der Sexualtäter aktiv gewesen war. Die ersten Übergriffe hatte es über zehn Tage hinweg Ende August gegeben, als er Frauen durch Fenster beobachtet hatte. Dann, im Dezember 1951, hatte es einen regelrechten zweiwöchigen Amoklauf mit immer heftigeren körperlichen Attacken gegeben. Von Mal zu Mal lasen sich die Berichte schlimmer.
Im Dezember hatte der Täter zunächst damit begonnen, heimlich durch Fenster zu spähen. Im Verlauf von vierzehn Tagen hatte er sich bis zu körperlichen Attacken gesteigert, Freiheitsberaubung und gebrochene Rippen inklusive. Ein Weißer, der solcher Verbrechen für schuldig befunden wurde, war in den Augen der Gerichte und der Öffentlichkeit ein Perverser und Verräter an seiner eigenen Rasse. Paul Pretorius hatte die Vorstellung zwar von sich gewiesen, der Mord an seinem Vater könnte etwas mit einem unappetitlichen Sexualdelikt an nichtweißen Frauen zu tun haben. Aber gerade ein Europäer wäre womöglich zu drastischen Maßnahmen bereit gewesen, um sein beschämendes Geheimnis zu wahren.
Emmanuel nahm sich den letzten Bericht vor, der auf Afrikaans von Captain Willem Pretorius selbst abgefasst war.
Abschlussbericht über den Fall sexueller Belästigung 28. Dezember 1951
Nach nochmaliger Befragung der betroffenen Frau glaube ich aus folgenden Gründen nicht, dass eine Verhaftung des Täters wahrscheinlich ist:
Keine der Frauen ist in der Lage, den Täter zu identifizieren, da die Übergriffe stets nachts stattfinden und die Opfer von hinten gepackt werden.
Die Rassenzugehörigkeit des Täters ist bis heute ungewiss.
Der Akzent des Täters legt nahe, dass es sich um einen Ausländer handelt, der möglicherweise
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