Ein Schöner Ort Zum Sterben
und zeigte Markby den Platz, um mit plötzlicher und verspäteter Scheu hinzuzufügen:
»Wenn Sie nichts dagegen haben, bleiben Tiger und ich hier stehen, während Sie nachsehen.«
Markby ging alleine weiter. Er umrundete den Müllhaufen und teilte vorsichtig langes nasses Gras und Disteln. Es roch unangenehm nach nasser Erde, tierischen Exkrementen und Verwesung. Dort lag die zusammengefallene Pappe, die Miss Rissington erwähnt hatte. Eine große Kiste war auseinander gerissen worden und lag verstreut auf dem Boden. Die Sonne schien in diesen Winkel, und der Reif war einer alles durchdringenden Nässe gewichen. Die Pappe lag nicht flach, sondern aufgewölbt. Die aufgedruckte Schrift
»Diese Seite oben« war noch lesbar, doch eine Schnecke war darübergeglitten und hatte eine silberne Spur hinterlassen.
Zum ersten Mal verspürte Markby Unruhe in sich aufsteigen. Miss Rissington hatte sich ganz sicher getäuscht, oder doch nicht?
»Haben Sie’s?«, rief sie unsichtbar von der anderen Seite des
Müllhaufens. Tiger bellte schrill dazu.
»Noch nicht, aber ich habe den Karton.«
»Soll ich kommen und …«
»Nein, nein! Sie bleiben, wo Sie sind!« Er schob sich vor, und dann entfuhr ihm vor Überraschung
ein Keuchen, dem gleich darauf ein scharfer Atemzug folgte.
Mitten im rauen Gras zwischen nassen Ampferblättern ragten zwei menschliche Beine unter dem großen Karton hervor. Sie sahen jung aus, ungelenk, kindlich, und sie waren ohne jeden Zweifel weiblich. Die Zehennägel waren in einem grellen Blutrot lackiert. Billige hochhackige Schuhe hatten sich von den Füßen gelöst und lagen auf einer Seite im Gras.
Markby beugte sich hinunter und hob vorsichtig mit einer Fingerspitze den nassen Karton an. Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte Miss Rissington Recht: Tiger hatte einen Leichnam gefunden. KAPITEL 4
»Augenblick bitte!«, brüllte Dr. Fuller.
»Ich komme gleich zu Ihnen!«
»Gut«, murmelte Markby und starrte düster auf die glänzenden Fliesen und den glitzernden Stahl ringsum. Trotz seiner bewussten Anstrengung, etwas anderes anzusehen – oder vielleicht auch wegen des Mangels von etwas anderem, das sich anzusehen gelohnt hätte –, wurde sein Blick immer wieder von dem weißen Laken und den verräterischen Umrissen darunter angezogen. Zögernd streckte Markby die Hand aus und schlug das Laken zurück. Fuller hatte lediglich eine vorläufige Untersuchung durchgeführt, und die eigentliche makabre Arbeit stand ihm noch bevor. Sie war sehr jung. Vielleicht hatte sie am Abend vorher, vor ihrem Tod, etwas älter ausgesehen, in den hochhackigen Schuhen, mit Schminke auf den Wangen, Lippenstift und Maskara. Doch jetzt sah sie aus wie ein Kind. Ein halb erwachsener Leichnam auf halbem Weg vom Schulmädchen zur Frau. Ein hübsches kleines Gesicht mit den rundlichen Konturen der Jugend. Die Farbe darauf schien irgendwie unpassend, als hätte ein kleines Mädchen die Schminkkommode seiner Mutter geplündert. Jeder Charme, den sie im Leben vielleicht ausgestrahlt hatte, war von einem großen schwarzen Loch in der linken Schläfe zerstört, gefüllt mit geronnenem Blut, gesplittertem Knochen und Gewebe. Irgendetwas war mit der gleichen Effizienz in ihren Schädel eingedrungen wie ein Löffel, der ein weichgekochtes Ei aufschlägt. Rings um die Wunde und im dunklen Dreck klebten lockige Haarsträhnen. Blut war über die Seite ihres Gesichts und in das Ohr gelaufen. Gras haftete daran. Der Fotograf hatte ein Tuch über all das gelegt, als er Aufnahmen von der Toten geschossen hatte, um sie zu identifizieren – für den Fall, dass niemand auf der Wache erscheinen und sie als vermisst melden würde. Doch selbst diese entsetzliche Verstümmelung würde zur Bedeutungslosigkeit verblassen angesichts des Gemetzels, das die Pathologie bald mit ihren sterblichen Überresten veranstalten würde. Leichen in den verschiedensten Stadien der Zersetzung waren Teil von Markbys Alltagsgeschäft. Schrecklich zugerichtete, zerschmetterte, verstümmelte Körper, Körperteile. Menschen, die in ihren Wohnungen eines natürlichen Todes gestorben und wochenlang nicht gefunden worden waren. Nichts von alledem, wie schrecklich auch immer, erfüllte ihn mit dem gleichen Maß an Widerwillen wie ein sauber sezierter Kadaver auf einem Marmortisch. Mord hatte wenigstens etwas mit Leidenschaft zu tun. Das akribische Herumstochern im Zuge der Autopsie war etwas anderes. Ein Akt offizieller Neugier, umsichtig und unmenschlich zugleich. Er
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