Ein Schöner Ort Zum Sterben
gesprochen?«
»Ja. Mit meiner Mutter.«
»Ihrer Mutter!« Markby wäre fast von seinem unbequemen Sessel gefallen.
»Sie lebt bei Ihnen? Ich dachte, Sie wohnen allein?«
»Natürlich wohnt sie nicht bei mir! Sie lebt in New Jersey. Telefon, Chief Inspector! Ich habe sie gegen halb neun örtlicher Zeit angerufen, also halb vier nachmittags in New Jersey. Wir haben uns etwa zehn Minuten lang unterhalten. Es ist sehr teuer, und ich kann mir kein längeres Gespräch leisten.« Sie gab ein leises, ärgerliches Zischen von sich.
»Warum, was ist daran falsch? Haben Sie geglaubt, Mädchen wie ich hätten keine Mutter?«
Es war Viertel vor vier. Josh Sanderson ging rasch durch das Schultor und machte sich auf den Heimweg. Er schob sich durch seine Mitschüler, alleine, ohne Begleitung, auf die Art und Weise, die typisch ist für einen echten Einzelgänger, doch umgeben von der undefinierbaren Aura eines Menschen, der sich – wie Kiplings Katze – selbst genügt. Ein oder zwei Mitschüler sahen ihm hinterher, weil sie von Katie wussten, doch keiner sprach ihn an. Es war, als schämten sie sich seiner Gegenwart. Normalerweise hätten sie ihn ignoriert. Sie hatten ihn stets behandelt wie jemanden, der unter ihrer Würde war. Er war nicht gut in Sport, nicht gut im Schauspielunterricht (der normalerweise eine anerkannte Alternative zur Leibesertüchtigung darstellte) und hatte niemals etwas zum allgemeinen Klatsch beizutragen. Er war nichts weiter als ein kluger, belesener, schweigsamer Träumer, der mit einem hochnäsigen Mädchen von der Klosterschule herumzog.
Doch dieses Mädchen war nun tot, genau wie Lynne Wills, die sie alle gekannt hatten. Seit Katies Ermordung – und besonders, seit einen Tag später ein Polizeibeamter in die Schule gekommen war und nach Josh gefragt hatte – konnten sie seine Gegenwart nicht länger ignorieren. Andererseits wussten sie auch nicht, wie sie sich verhalten sollten. Damit spiegelten sie exakt die allgemeine Unsicherheit, von der Markby gegenüber Meredith gesprochen hatte. Ungestüme Jugendliche, die Josh als unbedeutend abgetan hatten, fragten sich nun, ob er tatsächlich das war, was er immer zu sein gewesen schien. Oder ob es möglich war, dass sie mit ihren oberflächlichen, raschen Urteilen falsch gelegen hatten.
Josh wusste, was in ihren Köpfen vorging, doch es kümmerte ihn genauso wenig wie alles andere. Katie war der einzige Mensch gewesen, der ihm etwas bedeutet hatte, und Katie war tot. Die schmerzhafte Lücke konnte nicht ausgefüllt werden. Er hatte immer davon geträumt, dass vielleicht eines Tages, wenn er sich nur genug anstrengte, einen Platz an der Universität bekam und später richtig Karriere machte, dass dann nicht einmal mehr die Conways Einwände gegen ihn haben konnten. Dann konnten er und Katie für immer zusammen sein. Der Plan ihrer Mutter, Katie nach Paris zu schicken, hatte ihm furchtbare Angst gemacht, weil sie dadurch seiner Welt entrissen worden wäre, bevor er seine Ziele erreichen konnte. Sie wäre verändert zurückgekommen, nicht mehr länger an seinem provinziellen Gerede und seinen einfachen Ansichten interessiert. Nun war sie ihm auf ganz andere Weise entrissen worden, und für keinen von ihnen beiden gab es eine Zukunft mehr.
Josh wollte nicht nach Hause. Tante Celia wurde zwar nicht müde zu betonen, wie tragisch sie das alles fand, doch es gelang ihr nicht, die heimliche Befriedigung darüber zu verbergen, dass Katie nicht mehr war. Er hätte Tante Celia lieben müssen, weil sie immer gut zu ihm gewesen war. Doch das tat er nicht. Und seine leibliche Mutter konnte er nicht lieben, weil er sie überhaupt nicht kannte. Er hatte all seine Liebe einem einzigen Menschen geschenkt.
Josh schlug den Weg in Richtung Stadtpark ein. Im Sommer hatten er und Katie manchmal auf der Bank beim Kinderspielplatz gesessen, sich unterhalten und den Kleinen beim Spielen zugeschaut. Im Winter wurde der Park bei Einbruch der Dämmerung geschlossen, und niemand ging nach der Schule noch dorthin. Wenn Josh nun doch zum Park ging, dann nur, weil er dort wieder bei Katie sein konnte und weil niemand ihn stören würde.
Der Spielplatz lag verlassen. Josh ignorierte das Schild, das den über Zwölfjährigen untersagte, die Spielgeräte zu benutzen, setzte sich auf das Karussell, drückte sich mit den Füßen im Kreis herum, stellte sich auf die Schaukel, schwang sich hin und her, quetschte sich sogar in die kleine Weltraumrakete und schaukelte darin, bis die
Weitere Kostenlose Bücher