Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
und mit Lucas und Finn die Steine des Bogens wieder an ihre richtigen Stellen plazierte. Kurz danach schleppten alle drei eine Art Mini-Schneekanone an und puderten das gesamte Kunstwerk sowie den halben Saal großzügig mit einer Schicht Kreidestaub ein. Gegen Mittag sah der Saal aus wie eine Schneelandschaft. Ich fragte mich zwar, wer das alles wieder säubern sollte, sagte aber nichts, weil Milly MacDonald gerade voller Mordgelüste neben mir stand.
Ein Blick in die vor Begeisterung leuchtenden Augen von Finn, Lucas und Ryan ließ mich an einen Satz von Immanuel Kant denken. „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten“, murmelte ich und verdrückte mich schleunigst.
Den Rest des Tages verbrachte ich fast ausschließlich in der Bibliothek, was angesichts des steten Regens, der gegen die Fensterscheiben prasselte, nicht unangebracht war. Ryan hatte am frühen Nachmittag endlich die Nachricht vom Duke bekommen, dass sich die Handschriften, bei denen es sich angeblich um Briefe einer Dienstmagd handeln sollte, in einem Archiv in Edinburgh befanden. Die große Standuhr zeigte halb fünf. Ryan hing somit seit geschlagenen zweieinhalb Stunden am Telefon, um das richtige Archiv herauszufinden. Es gab wohl mehrere.
„Die haben sie verschlampt!“, rief er empört, als er nach seinem Telefonmarathon mit stark zerrauftem Haarschopf in der Bibliothek aufkreuzte. „Was für ein Saustall ist das?“
Ich schmunzelte. „Wie ich sehe, warst du erfolgreich.“
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare – was es noch verschlimmerte – und ließ sich mit einem befriedigten Seufzer in den Ledersessel fallen. „Ja“, sagte er und lächelte endlich. „Ein nichtsnutziger Archivar hat sie vor seiner Entlassung, die anscheinend mehr als nötig war, in der untersten Schublade gewissermaßen vergraben . Vor zwei Monaten hat man sie durch einen Zufall entdeckt, aber da niemand wusste, woher sie stammten, hat man sie zwischen einen Stapel gewöhnlicher Korrespondenzen erneut verräumt. Ignorante Stümper!“
„1858 bis 1863“, sagte ich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, was mir mit Bravour gelang.
„Du hast es?“, fragte er mit großen Augen.
„Ich habe es. Es fehlen zwar auch die Jahre 1833 und 1834, aber da im Jahre 1833 der Verwalter an Diphtherie verstarb, liegt das Fehlen wahrscheinlich daran, dass kein Nachfolger gefunden werden konnte, außerdem hören die Aufzeichnungen im Jahre 1858 viel zu abrupt auf.“
„Wie abrupt?“, fragte er, stand auf und setzte sich zu mir.
„Gewissermaßen mitten im Satz. Sieh her! Hier ist eine Liste, die der Verwalter angelegt hat, um das Personal aufzustocken. Ich bin vielleicht keine Expertin auf diesem Gebiet, aber man stockt das Personal doch nur auf, wenn …“
„… man Besuch erwartet“, vervollständigte Ryan meinen Satz.
„Eben“, sagte ich. „Und bei jenem Besuch handelt es sich einwandfrei um den Sohn des damaligen Eigentümers. Die Burg gehörte zu der Zeit einem Lord Norrington. Hier ist ein Brief seines Sekretärs, in dem steht, dass Lord Norringtons Sohn Samuel auf Anordnung seines Vaters fortan auf Caitlin Castle residieren solle. Mir scheint, er hat seinem Sohn eine ziemlich unorthodoxe Art von Hausarrest erteilt.“
„Was hat der gute Sam denn angestellt?“
„Sich mit den falschen Leuten eingelassen“, erklärte ich und lachte über Ryans verblüfften Gesichtsausdruck.
„Woher weißt du das?“, fragte er.
„Ich habe es gelesen.“ Ich suhlte mich förmlich in meinem Stolz, während ich den Zeitungsausschnitt hervorzog. Ich hatte ihn, zugegeben durch Zufall, in einem Stapel vergilbter Gazetten entdeckt, den ich auf der Suche nach Todesanzeigen durchgeblättert hatte, und fächelte mir jetzt damit graziös Luft zu. „Anstatt sich auf sein juristisches Examen vorzubereiten“, verkündete ich, „hat Sam sich lieber einem dieser realitätsfernen Geheimbünde angeschlossen, fröhlich Rituale abgehalten und Dämonen heraufbeschworen – bis dabei ein junges Mädchen ums Leben kam und die ganze Sache aufgeflogen ist.“
Ryan riss mir fast die Zeitung aus den Händen. Ich ließ ihn huldvoll gewähren, lehnte mich zurück und hatte irgendwie das Gefühl, im Rausch des Triumphes eine Zigarre rauchen zu wollen. Ryan las den Artikel und hob den Kopf. „Respekt, Miss Bergman!“
„Vielen Dank!“, sagte ich und deutete eine Verbeugung an.
„16. April 1858“, murmelte Ryan daraufhin. „Wann hat dieser Sekretär seinen Brief
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