Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
silberne Brille, was ihm alles in allem das Aussehen einer aufgeplusterten und lehrreichen Eule aus dem Vormittagsprogramm eines Kindersenders verlieh.
„Ailsa, meine Liebe!“, rief er aus und öffnete die Arme. „Wenn ich dich schon nicht beim Gottesdienst antreffe, ist es doch schön, dich überhaupt mal zu sehen.“
Ailsa lächelte über diesen Tadel und hob den Teller. „Hochwürden! Meine Tante bat mich, Ihnen das hier vorbeizubringen, wenn ich ins Dorf fahre.“ Sie hob das Tuch vom Kuchen und wedelte damit, um den Duft gradewegs in seine Nase zu lenken.
„Pfirsichkuchen!“, rief er aus und klatschte entzückt in die Hände. „Ihr zwei leistet mir doch Gesellschaft, nicht wahr? Wer ist eigentlich deine Freundin, Ailsa? Willst du sie mir nicht vorstellen?“
„Das ist Jo, Hochwürden. Sie kommt aus Deutschland und macht hier gerade Urlaub. Ich habe sie mitgebracht, weil sie sich sehr für Ihre Sammlung interessiert.“
Ich warf Ailsa einen Blick zu und nickte. „Ja, Hochwürden. Ihre … äh … Sammlung?“
„Ja, meine Sammlung!“, rief er, und seine Augen begannen zu leuchten. „Wie wunderbar! Es freut mich immer, jemanden zu treffen, der sich auch für sensuelle Ausdrucksweisen begeistern kann. Wartet! Ich lasse uns Tee bringen.“ Mit diesen Worten lief er zur Tür und öffnete sie.
„Sensuelle Ausdrucksweisen?“, flüsterte ich Ailsa zu, doch die zwinkerte nur und setzte dann eine harmlose Miene auf.
„So!“, sagte Pastor Livingston und schloss die Tür. „Frances bringt uns gleich den Tee. Setzt euch! Setzt euch!“
Er wies freudestrahlend auf eine kleine Sitzgruppe und ließ sich selbst in einem Sessel nieder, der schon so mitgenommen aussah, dass es offensichtlich der Lieblingsplatz des alten Herrn war.
„Nun, mein Kind“, sagte er. „Wie lange bist du denn schon in unserem schönen Land?“
„Oh! Seit einer Woche“, antwortete ich.
„Und? Kann ich hoffen, dich übermorgen bei unserem Sonntagsgottesdienst anzutreffen?“
„Ich werde mich bemühen, Hochwürden.“
„Das sollte keine Mühe für dich sein, mein Kind, sondern ein Herzenswunsch!“
„Natürlich, Hochwürden! Ich werde da sein.“
Pastor Livingston lächelte. „Bring Ailsa mit!“
Sie hatte recht. Er war ein kleiner gerissener Himmelhund. In diesem Moment ging die Tür auf, und die unfreundliche Frances servierte uns eine Kanne Tee und stellte Tassen und Kuchenteller auf den Tisch.
„Millys Pfirsichkuchen ist eine Offenbarung – der Herr möge mir vergeben. Danke, Frances!“, sagte der Pastor, rieb sich die Hände voller Vorfreude und legte sich dann ein Stück Kuchen auf den Teller. Ailsa hatte sich derweil die Kanne genommen und verteilte bereits den Tee, während ich dem Pastor schmunzelnd dabei zusah, wie der Kuchen im Handumdrehen von seinem Teller verschwand und das nächste Stück in Angriff genommen wurde. Als auch dieses den Weg in seinen Magen gefunden hatte, nahm er seinen Tee, lehnte sich zurück und plazierte die Untertasse auf seinem Bauch. „Sag mal, mein Kind“, begann er. „Wie ist es denn dazu gekommen, dass eine so junge und moderne Frau sich für die Kunst des Lettre d’amour interessiert? Heutzutage, mit Internet und so weiter wird diese Kunst doch leider kaum noch beachtet. Da wird nur noch mit Kürzeln rumhantiert.“
„Lettre d’amour?“ Ich warf Ailsa einen fragenden Blick zu.
„Na, Annies Brief, Jo!“, sagte sie, nickte vielsagend und deutete auf meine Handtasche.
„Annies Brief? Ja, der Liebesbrief!“, rief ich aus und riss dann vor Überraschung die Augen auf. „Sie sammeln alte Liebesbriefe?“
„Aber ja!“ Er runzelte die Stirn. „Ailsa meinte doch …“
„Ja … nein, ich meine, natürlich!“, faselte ich vor lauter Verwirrung. „Ailsa hat es mir gesagt, und deswegen sind wir ja hier. Ich habe auf Caitlin Castle einen alten Liebesbrief gefunden, Hochwürden, und ich fand ihn so berührend, dass ich ihn Ailsa zeigte, und sie schlug vor, mit dem Brief zu Ihnen zu kommen. Vielleicht können Sie uns etwas über die Verfasserin des Briefes erzählen.“ Ich griff hektisch nach meiner Tasche und zog das Blatt Papier heraus.
Die Neugier von Pastor Livingston war geweckt. Ich schaute zu, wie er den Brief vorsichtig entfaltete und betrachtete. „Oh! Ja! Die fehlerhafte Schriftführung besagt zwar, dass dies ein einfaches Mädchen war, aber ihre Ausdrucksweise ist sehr geschmackvoll. Wo, sagtet ihr, hättet ihr den Brief gefunden?“
„Auf
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