Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
und schützen wollten.“
„Aus sicherer Entfernung lässt sich so was leicht sagen, Jo.“
„Vielleicht“, antwortete ich. „Aber an deiner Stelle würde ich mal darüber nachdenken. Auch Marlin hat seine Mutter verloren. Du und er, ihr teilt das gleiche Schicksal, und ihr seid alles, was eurem Vater von den Frauen, die er einmal geliebt hat, geblieben ist.“
„Mein Vater weiß nicht, was Liebe ist.“
„Ach, nein? Weißt du es denn?“
„Liebe ist Ehrlichkeit, Vertrauen und Loyalität.“
„Nein, mein Lieber. Ehrlichkeit, Vertrauen und Loyalität sind die Stützpfeiler der Freundschaft. Liebe dagegen ist Verzeihen.“
Ryan sah mich nur an und ging dann wortlos an mir vorbei.
„Denn eben nicht“, murmelte ich und verdrehte die Augen. Was für ein Dickschädel!
Plötzlich fiel mir aus heiterem Himmel die Gestalt wieder ein, die ich vom Turmfenster aus gesehen hatte.
Ich schaute Ryan hinterher, der jedoch längst im Turm verschwunden war, und fragte mich, was das zu bedeuten hatte.
Beim Mittagessen wich Ryan beharrlich meinen Blicken aus, und irgendwann gab ich es auf, nach Anzeichen zu suchen, die meinen Verdacht entweder erhärten oder zerstreuen konnten.
Ich würde Marlin fragen, ob Ryan ihn aufgesucht hatte und wenn … dann gnade ihm Gott!
Nach dem Lunch ging ich zurück in die Bibliothek, und um nicht länger über Ryan, Marlin und meine desolate Lage nachzudenken, stöberte ich weiter in Annies Briefen. Nach einer Weile steckte Ailsa ihren Kopf zur Tür herein. „Hast du gesehen, was meine Tante in der Haupthalle angerichtet hat?“
„Ja, habe ich. Ich kam gerade dazu.“
„Ryan hat fast einen Anfall bekommen“, kicherte sie, kam herein und setzte sich zu mir. „Sind das die Briefe, von denen du erzählt hast?
„Ja. Sag mal, Ailsa, wenn du wieder ins Dorf fährst, könntest du mich dann mitnehmen? Ich müsste dem Pastor einen Besuch abstatten.“
„Dem Pastor? Willst du Ryan exkommunizieren lassen?“
Ich lächelte. „Keine schlechte Idee! Aber, nein. Milly sagte, im Pfarrhaus wurden früher Bücher geführt. Nicht nur die normalen Kirchenlisten – obwohl es nicht schaden könnte, da auch mal einen Blick reinzuwerfen –, sondern auch eine Art Diarium der Pfarrei, und ich wollte ihn bitten, mir Einsicht in die Tagebücher zu gestatten.“
„Das wird nicht so leicht werden. Pastor Livingston ist ein gerissener kleiner Himmelhund, der Geister und Gespenster für ausgesprochenen Bockmist hält. Den musst du schon austricksen.“
„Milly hat Kuchen gebacken.“
„Hm-hm!“, erwiderte Ailsa und verzog das Gesicht zu einem spitzbübischen Grinsen. „Guter Anfang! Trotzdem, du brauchst Unterstützung, meine Liebe. Weißt du was? Ich komme mit.“
„Ehrlich?“
„Ich kann dich doch nicht allein ins Pfarrhaus gehen lassen. Livingston tauft dich, bevor du auch nur merkst, was los ist.“
„Wann fahren wir?“
„Meinetwegen können wir sofort los“, sagte sie. „Ach, da fällt mir ein – du hast nicht zufällig einen schönen, alten Liebesbrief zur Hand?“
„Doch!“, rief ich und wühlte durch meinen Papierhaufen, zog einen hervor und hielt ihn ihr vor die Nase. Sie überflog kurz die Zeilen und grinste dann breit. „Nimm ihn mit!“, sagte sie.
„Warum?“
„Das wirst du schon merken.“
Bestechung eines Pastors
Das Pfarrhaus von Broch Monadail befand sich genau gegenüber einer Feldsteinkirche und sah aus wie ein kleines Rathaus. Es war weiß gestrichen und hatte Fensterrahmen und Läden aus dunklem Holz. Drei breite, ausgetretene Stufen führten hinauf zur Tür, und als ich diese hinaufging, fühlte ich mich ein wenig wie auf dem Gang zum Schuldirektor. Während der Fahrt hatte Ailsa mir erzählt, dass Pastor Livingston in seiner Jugend an einer Grundschule Religion und Englisch unterrichtet hatte und mittlerweile auf die siebzig zuging, was ihn jedoch nicht davon abhielt, immer noch schulmeisterliche Weisheiten zu schwingen.
Die Tür wurde geöffnet, und eine hochgewachsene, mürrische Frau eskortierte uns in ein holzvertäfeltes, gemütliches Büro, wo ein kugelrunder, kleiner Mann am Fenster stand und einem Kanarienvogel eine Apfelschale durchs Gitter reichte.
„Herr Pastor? Hier ist Besuch für Sie“, sagte die Frau.
Pastor Livingston drehte sich zu uns. Sein Haar war weiß und flaumig und umrundete wie eine Tonsur seinen Kopf, der ein wenig eiförmig war und ohne Hals auf seinen Schultern saß. Auf seiner Nasenspitze hockte eine kleine,
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