Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
muss Nelly sagen, dass sie das hier aufsaugen soll.“
Ich blieb noch einen Augenblick lang sitzen und machte mich dann auf den Weg in die Bibliothek. Irgendetwas, das Milly gesagt hatte, hatte mich an einen Absatz aus den Briefen erinnert. Ich konnte nur nicht sagen, was.
Vor der Bibliothek blieb ich stehen und lauschte. Doch Ryan schien anderweitig zugange zu sein, also öffnete ich die Tür und ging hinein. Der Tisch war übersät mit Annies Briefen und Tagebuchseiten, mit den Jahrbüchern und Zeitungen von damals. Alles war durcheinander. „Ach, Ryan!“, seufzte ich, ließ mich nieder und begann das Chaos zu lichten. Nach einer Weile fand ich den Brief und den gesuchten Absatz.
Dolores hat uns belauscht, mein Herz! Was sollen wir nur tun? … Ich sehe, dass etwas Furchtbares auf uns zukommt, und ich weiß nicht, wie ich das Unglück abwenden kann … Die grünen Hügel Irlands erscheinen mir im Traum. Sie sagen mir, dass es so weit ist … Mein Leben hier nun endet.
Irland! Der irische Bastard, den der Lord nicht wollte. Annie war also Irin gewesen. Dolores, das Dienstmädchen. Dolores? Der Name kam mir schon vorhin bekannt vor. Ich runzelte die Stirn, und dann fiel es mir ein … der Dienstplan!
Ich schob den Stuhl zurück, starrte noch einen Moment lang auf den Namen, stand auf, verließ die Bibliothek und machte mich auf in die Kellergewölbe. Als ich an der Haupthalle vorbeikam, waren Finn, Lucas und Rupert, den Geräuschen nach zu urteilen, gerade dabei, den Rundbogen wieder fein säuberlich einzustauben. Auf dem Weg nach unten kam mir Malcolm mit einem seltsam in sich gekehrten Gesichtsausdruck entgegen.
„Hi, Malcolm!“, grüßte ich und wollte an ihm vorbeilaufen, doch da er nicht reagierte, hielt ich ihn zurück. „Ist alles in Ordnung?“
„J-ja! Ryan ist unten – mit Se-sev…“
„Ja, ist schon gut. Ich verstehe“, sagte ich und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. „Mach dir nichts draus!“
Er sah mich kurz an, nickte und stieg schweren Schrittes an mir vorbei die Treppe hinauf.
Armer Malcolm!, überlegte ich. Da hatte die französische Sexgewalt ja ganze Arbeit geleistet. Ich sah ihm nach, wie er sein gebrochenes Herz die Stufen hochhievte, und hatte nicht wenig Lust, Madame Pompadour den Hals umzudrehen.
Schließlich lief ich weiter und stand endlich vor dem Dienstplan. Da stand es geschrieben – verblasst und vergilbt, aber deutlich zu lesen.
Dolores und Annies Dienst endete am gleichen Tag, am 6. Mai 1865. Danach tauchten sie nicht mehr auf. Aber das tat nichts zur Sache, denn ich hatte nun ein Datum! Heureka! Sechster Mai!
„Du freust dich ja so?“
„Ja! Ryan, wir haben ein Datum. Das Datum, um genau zu sein. Wir wissen, wann Annie starb. Wann …“ Ich war so voller Eifer und Triumphgefühl, dass ich seinen Tonfall und den Ausdruck in seinem Gesicht zu spät erfasste. „Ich meine, ich weiß nicht genau, ob sie an diesem Tag wirklich starb, aber … nun sieh mich nicht so an!“
„Wie sehe ich dich denn an?“
„So, wie du mich nie wieder ansehen wolltest.“
„Und? Hast du mit ihm geschlafen?“
Ich wollte gerade zu einer gepfefferten Antwort ansetzen, als Madame Pompadour um die Ecke geschwebt kam.
„Ryan, Darling! Du hast mich … oh! Hallo, Jo.“
„Hallo, Severíne!“
„Wolltest du mich hier unten lassen?“, fragte sie Ryan mit schmachtendem Augenaufschlag und hängte sich an seinen Arm.
Ich sah Ryan fest an, ohne mit der Wimper zu zucken, und ließ meine Gedanken deutlich in meinem Gesicht aufleuchten.
„Geh schon vor, Severíne!“, sagte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ich komm gleich nach, aye?“
„Ryan, ich …“
„Bitte!“, erwiderte er betont.
Severíne warf mir einen berechnenden Blick zu und ging davon. Als ihre Schritte verklungen waren, regte sich Ryan.
„Tut mir leid!“, sagte er. „Ich kann diesen Kerl einfach nicht ausstehen.“
„Diesen Kerl? Er ist dein Bruder, Ryan! Und wenn du nicht so störrisch an deinem Selbstmitleid festhalten würdest, könntest du sehen, wie wunderbar er ist, könntest ihn wieder so sehen wie früher.“
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was hat er dir erzählt?“
„Alles!“
„Tatsächlich! Und? Was würdest du tun, wenn du herausfindest, dass man dich jahrelang belogen hat?“
„Ich wäre sauer, ganz klar. Aber nach einer Weile würde ich mich fragen, warum sie das taten, und dann würde ich irgendwann erkennen, dass es geschah, weil sie mich liebten
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