Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
natürlich. Entschuldige! Sag mal, hast du Mrs. MacDonald gesehen?“
„Ja, sie ist runtergegangen. Sie wollte Seine Lordschaft wegen der Anzahl der Gäste zum Mittagessen fragen.“
„Danke, Nelly!“
„Nichts zu danken, Miss!“, sagte sie und ging weiter, während sie einen übergroßen Staubsauger hinter sich herzog. Ich lief zum Turm und ging hinunter, wollte von dort den Weg hinab in die Kellerräume nehmen und sah Milly dann aus dem Augenwinkel heraus im großen Saal stehen. Sie hatte einen der Steine vom Rundbogen in der Hand, fixierte ihn und wirkte wie zu einer Salzsäule erstarrt.
„Oh, nein! Nicht schon wieder“, murmelte ich und ging auf den Saal zu. Der mit Kreidestaub überzogene Boden war übersät mit ihren Fußabdrücken. Es schien, als ob sie vorher ein paarmal den Bogen umrundet hatte, bevor sie dort stehen geblieben war, wo sie noch immer stand. Selbst das Geräusch meiner Schuhe auf den Dielen veranlasste sie zu keinerlei Regung. „Milly?“, rief ich leise von der Tür aus. Als sie sich immer noch nicht rührte, ging ich hinein. Der akribisch gepuderte Boden war sowieso schon zerstört. Ich legte den Apfel auf den Tisch und nahm vorsichtig ihre Hand. „Milly?“
Vor Schreck ließ sie den Stein fallen, der um Haaresbreite unsere Zehen verfehlte und krachend aufschlug.
„Oh! Himmel!“, rief sie. „Was mache ich hier?“
„Ist schon gut! Doktor Ross sagte, dass es wieder passieren könnte, also, machen Sie sich keine Sorgen. Kommen Sie, setzen Sie sich!“
Nach einem Moment des Überlegens setzte sie sich schließlich in Bewegung und ließ sich von mir führen. Millys ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Ruhig redete ich auf sie ein, so wie es der Doktor gesagt hatte, und tatsächlich – nach ein paar Minuten warf sie mir einen scheuen Blick zu.
„Alles wieder okay?“, fragte ich.
„Kann das unter uns bleiben?“, bat sie und drückte meine Hand. „Rupert macht sich sonst wieder Sorgen.“
„Das wird schwer zu verheimlichen sein, Milly.“ Ich nickte zu den vielen Fußspuren, und Milly folgte meinem Blick.
„Ach herrje! War ich das?“
„Na ja, entweder Sie oder unser Schlossgeist.“
Millys Gesichtszüge überzog ein zaghaftes Lächeln. Sie hob ihre Füße ein Stück an und sah auf das Profil ihrer Schuhe. „Schlossgeist fällt wohl flach.“
„Sieht so aus.“
„Was wird Seine Lordschaft dazu sagen?“
„Gar nichts, Milly! Finn und Lucas kriegen das im Handumdrehen wieder in den Griff, bestimmt.“
„Ich muss es ihm sagen“, murmelte sie und erhob sich vom Stuhl.
„Ähm, Milly?“
„Aye?“
„Kann ich Sie noch etwas fragen?“
„Aber natürlich, meine Liebe! So viel Sie wollen!“
Ich lächelte. „Können Sie mir etwas über Annie Guthrie sagen?“
„ Annella’bán? Natürlich! Es gibt eine Legende, die besagt, dass sie eine Silkie war. Aber in Wahrheit war sie wohl nur ein einfaches Mädchen, das sich mit dem Falschen eingelassen hat.“
„Ja, ich weiß. Lady Ellen sagte mir, dass es damals Gerüchte gegeben haben soll. Annie Guthrie hatte sich wohl angeblich von dem Sohn des Lords verführen lassen.“
„Nun ja. Er soll ein gutaussehender Mann gewesen sein.“
„Wissen Sie, was aus Annie geworden ist?“
„Auch das sind nur Gerüchte“, meinte Milly und setzte sich wieder zu mir. „Einige sagten, dass sie sich umgebracht hätte, als sie merkte, dass sie schwanger war. Sie soll sich vom westlichen Wehrgang gestürzt haben. Andere erzählten, dass der Lord sie im Brunnen ertränkt und dann im Burghof verscharrt hätte, weil er keinen irischen Bastard wollte. Dann gab es da noch ein Dienstmädchen, das behauptete, sie und der Lord wären durchgebrannt. Na ja, und schließlich ist da zu guter Letzt die Legende der weißen Annie. Such dir was aus, Liebes!“
„Hm. Das hilft mir nicht so recht weiter.“
„Du könntest auch Pastor Livingston aufsuchen. Soweit ich weiß, hat die Pfarrei früher so eine Art Buch über ihre Schäfchen geführt. Vielleicht wirst du dort fündig.“
„Sie meinen Kirchenregister?“
„Die auch, ja. Aber ich meine das Diarium der Pfarrei.“
„Ein Tagebuch?“, fragte ich. „Die haben tatsächlich Tagebuch geführt?“
„Frag Pastor Livingston! Und sag Bescheid, wenn du hinfährst, ich gebe dir dann etwas Kuchen mit – als Bestechung.“ Milly zwinkerte mir zu und erhob sich. Plötzlich war sie wieder ganz die Alte. Sie betrachtete missbilligend den Boden und zuckte mit den Schultern. „Ich
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