Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
Pastor Livingston sind gut befreundet. Sie hat ihm mal einen Brief überlassen, der aus der Feder eines ihrer früheren Verehrer stammte. Als sie ihn bekam, war sie siebzehn, zumindest erwähnte sie das irgendwann mal. Was wolltet ihr eigentlich im Pfarrhaus?“
Plötzlich fiel mir ein, dass wir bisher nicht ein einziges Mal über die Briefe gesprochen hatten. Zu viel war geschehen in den letzten Tagen. Wusste er überhaupt, dass die Handschriften, die Severíne aus Edinburgh mitgebracht hatte, von Annie waren?
„Hast du schon mal von Annie Guthrie gehört?“, fragte ich.
„ Annella’bán? Das sind doch Ammenmärchen, Jo.“
„Die Legende der weißen Annie, ja sicher, aber das hier nicht. Annie Guthrie gab es wirklich, und sie hat hier gelebt. Hier auf Caitlin Castle. Sie war Dienstmädchen zu der Zeit, als unser Samuel hier seinen Hausarrest absitzen musste.“
„Bist du sicher?“
„Ja, einige der Briefe sind datiert, und dann haben wir noch das hier.“ Ich suchte das Leinentaschentuch heraus, auf dem Annie einst ihren Traum notiert hatte, und zeigte ihm die Initialen, die dort am Rand eingestickt und noch immer lesbar waren – AG.
„Annie Guthrie“, sagte ich. „All die Briefe und Notizen, die man damals hier gefunden hatte, sind von ihr. Milly hatte mich auf die Idee gebracht, Pastor Livingston um Einsicht in die Pfarrbücher zu bitten. Ich hoffte, etwas zu finden.“
„Und?“
„Ich muss Sonntag mit Ailsa zum Gottesdienst gehen.“
Ryan lächelte. „Livingston läuft zur Hochform auf, wenn er ein Schäfchen wittert.“
„Ja, das stimmt.“
Ryan suchte meinen Blick, und seine Augen wärmten mich wie schwerer grüner Samt. „Ich hatte Angst, du würdest bereits deine Koffer packen“, sagte er leise.
„Ich habe darüber nachgedacht.“
„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“
„Zu keinem.“
„Das heißt, du bleibst?“ Hoffnung machte sich auf seinem Gesicht breit.
Ich atmete lächelnd aus. „Ja“, sagte ich. „Vorerst … Und nun geh! Ich kann deinen Anblick kaum ertragen.“
Ryan lachte auf und zuckte zusammen. „Au, verdammt!“, fluchte er, strich mit den Fingerspitzen über den Riss an seiner Unterlippe und warf mir einen zweiten samtgrünen Blick zu. „Ich bin sehr froh, dass du nicht fortgehst, Jo.“
„Ryan, das heißt nicht, dass ich …“
„Aye, ich weiß“, unterbrach er mich leise, lächelte bittersüß, stand auf und ging zur Tür.
Mit gemischten Gefühlen schaute ich ihm nach. „Sag Severíne, sie soll dir ein rohes Steak aus der Küche holen!“
„Das hole ich mir lieber selbst“, erwiderte er und machte die Tür von außen zu.
Am nächsten Morgen sah Ryan aus wie ein Porträt aus der blauen Periode Pablo Picassos. Ailsa, die diesen Vergleich beim Frühstück gezogen hatte, versteckte ihr Schmunzeln hinter der Teetasse. Finn hielt sich eine Serviette vor den Mund, und Malcolm grinste unverhohlen, Lucas verwandelte sein Lachen in ein Räuspern, und selbst Severínes Augen blitzten amüsiert auf.
Ich konnte Ailsa nur beipflichten. Ryan bot an diesem Morgen einen wahrlich verheerenden Anblick. Ailsa hatte ihn mit einer ihrer Wundersalben behandelt, die eine grässlich graugrüne Farbe hatte und nach Kompost roch.
„Vielleicht sollten wir ihn in die Galerie hängen“, schlug Finn vor, legte die Serviette beiseite und schlug lächelnd die Augen nieder. Ryan revanchierte sich mit einer Grimasse, zuckte zusammen und fluchte leise. Das tat er dauernd, etwa jedes Mal, wenn der heiße Tee oder der Porridge seine Unterlippe traf, und so vorsichtig, wie er kaute, vermutete ich, dass auch seine Zähne und sein Zahnfleisch etwas abbekommen hatten.
„Ja, ja, reißt ihr nur eure Witze“, knurrte er, hob den Kopf und sah mich aus blutunterlaufenen Augen an. „Alles okay?“, fragte er.
„Geht schon“, erwiderte ich und hob meine Tasse.
Ich hatte gehofft, der Kaffee würde mich ein wenig aufbauen, doch die Nacht steckte mir zu tief in den Knochen. Ich hatte kaum ein Auge zubekommen. Gegen Morgen hatte sich das Donnerwetter in mir zwar etwas gelegt, hauptsächlich da ich beschlossen hatte, sämtliche Empfindungen und Emotionen mit aller Kraft auszublenden. Doch jedes Mal, wenn ich Ryan ansah, wurde ich daran erinnert, und das brachte mein Blut aufs Neue in Wallung. Die Wut schwelte noch immer dicht unter der Oberfläche meiner Selbstbeherrschung wie das Knistern in der Luft kurz vor einem Gewitter, und ich hatte das Gefühl, dass beim kleinsten
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