Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
eher davon aus, dass Annie diese Briefe, wie auch ihre anderen Notizen, als eine Art Tagebuch geführt hatte. Ich konnte Annie, während ich ihren Worten folgte, fast sehen, wie sie in ihrer Dachkammer saß und beim Schein einer Öllampe oder einer Kerze mit Federhalter und Tinte ihre Gedanken zu Papier brachte. Seltsamerweise sah Annie dabei aus wie ich.
„Wusste ich doch, dass ich dich hier finde“, sagte Ryan und schloss die Tür hinter sich.
Ich hob den Kopf und zuckte vor seinem Anblick zurück. „Du siehst noch furchtbarer aus als gestern.“
„Danke! Ich freue mich auch, dich zu sehen“, sagte er säuerlich und setzte sich zu mir. Der Riss an seiner Lippe war zwar so gut wie verheilt, aber der Wangenknochen war noch immer blau, und an den Rändern der Hämatome veränderte sich die Färbung ins Grüne hinein. Er sah aus wie ein Clown, dem man mit einem nassen Lappen eins übergezogen hatte.
„Entschuldige!“, murmelte ich. „Ich habe dich gar nicht kommen hören. Seit wann seid ihr denn wieder da?“
„Seit eben. Wie war der Gottesdienst?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Nett – und lang.“
Ryan lachte leise. „Und? Habt ihr etwas herausgefunden?“
Ich reichte ihm die beiden Kopien aus dem Gemeindebuch des katholischen Pfarramts, in dem die Aufnahme von Annie und der Tod ihrer Mutter vermerkt waren. Ryans Augen wurden groß.
„Mit vierzehn kam Annie hierher“, sagte ich. „Und entgegen aller bösen Zungen ist sie weder umgebracht worden, noch hat sie sich das Leben genommen. Sie war schwanger, hatte ich dir das erzählt?“
„Nein, aber das gehörte zu den Gerüchten, und somit wussten es alle. Denkst du, dass Samuel der Vater gewesen sein könnte?“
„Ja.“
„Was glaubst du, ist aus ihnen geworden?“, fragte er. „Aus Annie und dem Baby, meine ich.“
Ich lächelte und schob ihm die Heiratsurkunde zu.
„Sie haben geheiratet?“
„Und sie lebten glücklich bis ans Ende aller Tage – hoffe ich mal.“
„Samuel und Annie? Er hat ein Dienstmädchen geheiratet?“
„Erzähl mir nicht, dass dich das schockiert?“
„Nein, aber es wundert mich. Bei dem Leben, das Samuel in Oxford geführt hatte, hatte ich ihn eher als Playboy gesehen. Ich hätte nicht gedacht, dass er so ehrenhaft sein würde und ein schwangeres Dienstmädchen zur Frau nimmt.“
„Ehrenhaft? Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass er sie einfach nur geliebt haben könnte?“
„Spricht da die Romantikerin aus dir?“, fragte er und lächelte gönnerhaft. „Schau mal, wir reden hier von einem Lord des neunzehnten Jahrhunderts. Einem Sassenach noch dazu. Diese Sorte heiratete keine Angestellten.“
„Dieser schon!“, fuhr ich ihn an.
„Du hast zu viele Jane-Austen-Romane gelesen, Jo.“
„Vielleicht, na und? Es ist doch verdammt egal, ob der eine mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde und der andere mit dem Hintern im Mist.“
Ryan sah mich einen Moment lang verdattert an und kniff dann voll Argwohn die Augen zusammen. „Sag mal, reden wir hier eigentlich noch von Samuel und Annie, oder haben wir schon das Thema gewechselt?“
Ich schnaufte und spürte schon wieder, wie sich die Gewitterwolken über mir zusammenballten, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich einen Hagelschauer auf ihn niedergehen lassen.
„Weißt du was?“, rief ich und riss ihm die Schriftstücke aus der Hand. „Vielleicht solltest du mit Severíne wirklich zu deinem Vater fahren, und wenn ihr schon mal da seid, kannst du sie ihm ja gleich als deine Verlobte vorstellen, da sie mit ihrem blaublütigen Gehabe viel besser zu deinem feudalen Weltbild passt.“
„Wovon zum Teufel redest du?“
„Ach, tu nicht so heuchlerisch, Ryan McKay! Du sagst, du liebst mich, und du redest von Verrat und Untreue – und kaum drehe ich mich um, gehst du mit Madame Pompadour ins Bett! Du prügelst dich mit Marlin – deinem Bruder! –, führst einen Krieg gegen deine eigene Familie, bezichtigst deinen Vater der Lüge und verleugnest deine Herkunft, obwohl sie dir förmlich auf der Stirn geschrieben steht. Du schwörst, du liebst mich, aber mit mir redest du nicht darüber. Nein, du redest mit Severíne! Und was die Krönung ist: Du sagst ihr, es läge in meiner Hand, ob du dich wieder mit deiner Familie versöhnst. War es ihr französischer Akzent, der dich überzeugt hat?“
Ich wollte aufstehen, doch er griff nach meinem Arm und zog mich zurück auf den Stuhl. „Moment mal!“, sagte er drohend. „Was genau hat
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