Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
Pinakothek gefolgt bist, und diese merkwürdige Statue am Brunnen, weißt du noch? Am ersten Abend? Du hast sie gesehen!“
„Eine Statue am Brunnen?“, fragte Marlin und runzelte die Stirn.
„Ja“, winkte ich ab. „An unserem ersten Abend hier habe ich eine große Gestalt im Mondlicht gesehen, die auf dem Burginnenhof am Brunnen stand und mich angesehen hat.“
„Hast du die vom Vestibül aus gesehen?“
„Ja! Woher weißt du das?“
„Ähm … Ich glaube, das war ich.“
„Du?“, fragten Ryan und ich gleichzeitig.
„Aye. Ich … ich wollte eigentlich einen Blick auf dich werfen“, sagte er, schmunzelte Ryan an und wandte sich mir zu. „Aber dann kamst du aus dem Turm, und ich konnte die Augen nicht von dir abwenden.“
„Marlin! Oh mein Gott!“ Ich schlug die Hände an die Brust. „Dann war es gar keine Einbildung.“
Marlin lächelte und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, war es nicht.“
Ich lachte vor Freude und Überraschung auf und erhaschte einen grimmigen Blick aus Ryans grünen Augen. „Nun gut!“, sagte ich schnell. „Das beweist zwar noch nicht, warum ich dich sehen konnte, aber wenn man die Lichtverhältnisse genauer untersuchen würde, käme man sicherlich auch dabei auf eine logische Erklärung. Meinst du nicht?“
Ryan zuckte mit den Schultern. „Aye, vielleicht“, murmelte er, bewegte die Schultern, als sei ihm sein Hemd zu eng, und stand auf.
„Ich muss zurück. Finn und Lucas …“
„Warte noch einen Moment, bitte!“, sagte Marlin und erhob sich ebenfalls aus dem Sessel. „Ich möchte dir noch etwas sagen und ähm … etwas geben.“ Er ging zu dem kleinen Sekretär.
„Marlin, nein!“, rief ich erschrocken. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“
„Jo! Früher oder später wird er es erfahren, und das muss er auch, also warum nicht jetzt?“
„Was muss ich erfahren?“, fragte Ryan und setzte sich wieder hin. Er runzelte die Stirn, als Marlin den Brief aus einer der Schubladen nahm. „Was ist das?“
Wortlos reichte Marlin seinem Halbbruder den Brief, den dessen Mutter einst geschrieben hatte, und setzte sich wieder. Ich hielt den Atem an, während Ryan die Zeilen überflog, kurz und ruckartig Luft holte und ihn noch einmal las.
„Ray!“, meinte Marlin leise. „Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe, damals, als wir Kinder waren. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen.“
Ryan hob abrupt den Kopf und fixierte seinen Bruder mit wildem Blick. Innerlich zuckte ich zurück. Es war beinahe, als würden Blitze aus seinen Augen schießen.
„Woher hast du das?“, fragte er und betonte jedes einzelne Wort. Ich spürte es deutlich, Unheil braute sich drohend zusammen. Marlin erwiderte Ryans Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Von Dad. Ich habe ihn schon eine Weile. Ich wollte ihn dir längst geben, aber …“
„Und du wusstest davon?“, unterbrach Ryan ihn und starrte mich mit demselben Blick an.
Innerlich zuckte ich noch mehr zurück. „Ja, seit gestern“, erwiderte ich und versuchte es mit einem warmen Lächeln. „Annie und Samuel sind deine Urururgroßeltern, wenn ich das richtig gerechnet habe.“
Ryans Gesichtsfarbe änderte sich von einer Sekunde zur anderen. Plötzlich zerknüllte er den Brief, stand auf und warf ihn mit aller Kraft in den Kamin.
„Ryan! Nein! Was tust du?“ Ich wand mich aus der Decke, schnappte mir den Schürhaken und versuchte den Brief aus dem Feuer zu retten, doch es gelang mir nicht. Das Papier war durch die Jahre trocken und brüchig geworden, so dass es blitzschnell in Flammen aufging.
Ryan stand da und sah zu, wie die Flammen es vernichteten. Dann ging er in den Flur, nahm Jacke und Stiefel und marschierte ohne ein weiteres Wort durch die Tür.
Zum letzten Mal
Jene Menschen, die stur an ihren Prinzipien und Denkweisen festhielten, die es nicht schafften, ihren Ansichten etwas Beweglichkeit einzuräumen, obwohl die aktuelle Lage, die derzeitige Situation ja geradezu danach schrie, nannte man Rigoristen. Immanuel Kant sah diesen Namen als Lob an, nicht als Tadel. Kant war schon immer mein Lieblingsphilosoph, und Ryan war ein Rigorist, an dem er seine wahre Freude gehabt hätte.
Marlin und ich beschlossen, Ryan eine Zeitlang aus dem Weg zu gehen, da wir uns beide sicher waren, dass er diese Zeit brauchen würde, um das, was er erfahren hatte, zu verarbeiten. Doch ich befürchtete, dass Rigoristen wie Ryan McKay lange brauchten, um etwas einzugestehen, was ihnen eigentlich
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