Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
schimmern sehen. Marlin war also doch zu Hause. Ich machte die Taschenlampe aus und schlich mich näher heran, sah gerade noch, wie Marlin alle Lichter im Haus löschte und aufbrach. Wo wollte er denn um diese Uhrzeit hin? Bei dem Gedanken an die alte Kapelle und den Tunnel zur Burg wurde mir schlecht. Hatte Ryan womöglich recht gehabt? Vorsichtig ging ich ihm nach, wich Ästen aus, damit ich keinen Lärm machte, und folgte ihm zu einer kleinen, runden Lichtung. Dort stand jemand und wartete anscheinend auf ihn. Ich konnte ihn leider nicht erkennen, da das Gesicht im Schatten lag, doch es musste ein Mann sein. Sie redeten leise miteinander. Ich schlich mich von der Seite her näher heran, doch bevor ich in Hörweite war, wandte der Mann sich ab und ging weg. Marlin stand mit dem Rücken zu mir. Als er sich nun umdrehte und dummerweise genau auf mich zuhielt, schnappte ich erschrocken nach Luft, machte kehrt und rannte los – geradewegs ins Leere hinein. Während ich fiel, dachte ich noch, dass es wohl keinen blöderen Menschen gab als mich, und schon schlug das Wasser über meinem Kopf zusammen. Bocan uaihm.
Ich schlug hektisch um mich. Jo! Du kannst schwimmen!, schrie der Teil meines Verstandes, der noch nicht von Panik durchdrungen war. Ich stieß mich ab, schwamm nach oben und durchbrach die Wasseroberfläche genau in dem Moment, in dem neben mir ein mächtiges Platschen erklang. Ich schrie zu Tode erschrocken auf, und fünf Sekunden später erschien ein weiterer Kopf an der Wasseroberfläche. Im silbrigen Licht des Mondes sah ich die Überraschung in Marlins Augen.
„Jo?“, rief er und starrte mich an, dann wurde sein Gesichtsausdruck ärgerlich. „Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Verdammt noch mal! Dir hätte sonst was passieren können! Was treibst du dich um diese Uhrzeit hier rum?“
„Das Gleiche könnte ich dich fragen!“, schoss ich zurück und wischte mir nasses Haar und Wasser aus dem Gesicht. „Warum gehst du nicht an dein Telefon?“
„Was? Das liegt im Cottage!“ Er machte den Mund zu und funkelte mich an. Dann wandte er sich ab und schwamm los.
„Wo willst du hin?“
„Na wohin wohl! Raus aus dem Wasser natürlich. Ich habe keine Lust, hier mit dir zu streiten. Los, komm jetzt!“
Triefend vor Nässe, bibbernd vor Kälte und schnaubend vor Wut stapfte Marlin vor mir her, vom Ufer des Sees bis hoch zum Cottage; ich – in ähnlicher Verfassung – ihm auf den Fersen.
Er riss die Tür auf und stieg die Treppen zum Schlafzimmer hinauf, ging hinein und öffnete einen großen Holzschrank.
„Hier!“ Er warf mir eines seiner Hemden und ein paar Boxershorts zu, schob mich ins anliegende Badezimmer und knallte mir die Tür vor der Nase zu. Kurz danach ging sie wieder auf, und ein Wollpullover und ein paar dicke Socken flogen herein.
„Ich mache den Kamin an. Zieh dich um, und komm dann runter!“, sagte Marlin, funkelte mich noch kurz an und machte schließlich die Tür wieder zu. Ich konnte ihn fluchen hören.
Mit einem leisen Hauch von schlechtem Gewissen und einer gehörigen Portion Wut zog ich mir die nassen Sachen aus, rieb mich trocken und schlüpfte in die wärmende Kleidung.
Immer noch vor Kälte zitternd, stieg ich schließlich die Treppe hinunter und blieb auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen. Auf einem kleinen Tisch standen eine Flasche Whisky und zwei Gläser. Marlin saß in dem großen Sessel am Kamin, umgezogen und in ein großes, warmes Plaid gehüllt. Er blickte ins Feuer, das sein Gesicht goldfarben umrahmte. Er sah aus wie ein Engel.
„Okay, es tut mir leid!“, sagte ich und schlang die Arme um mich. Es dauerte eine Weile. Ich dachte schon, er würde mich einfach auf der Schwelle erfrieren lassen, doch schließlich, ohne die Augen vom Kaminfeuer zu nehmen, öffnete er wortlos, aber einladend seine Arme. Ich verlor keine Sekunde, rannte zu ihm, kuschelte mich an seine Brust und genoss die Wärme von Marlins Körper und des Plaids, als seine Arme sich um mich schlossen.
„Ich brauchte etwas Zeit zum Nachdenken“, sagte Marlin leise, nachdem wir minutenlang einfach nur dagesessen, Whisky in kleinen Schlucken getrunken und uns aneinander gewärmt hatten.
„Worüber?“, fragte ich.
„Über dich und mich – und Ryan. Ich wollte herausfinden, ob ich die Kraft habe, dich aufzugeben. Ich wollte ein paar Tage raus aufs Meer fahren und nachdenken. Ich war auch draußen. Geschlagene zwölf Stunden.“
Ich steckte die Nase aus dem Plaid und sah ihn an.
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