Ein schwarzer Vogel
sie mich aus dem Zimmer gestoßen.
»Warum mußte er sterben, Onkel Harry? Er war so gut, so freundlich und aufmerksam. Auch so rücksichtsvoll gegenüber anderen und vor allem...so großzügig. Er war ein so netter Mann.«
Sharpies nickte stumm.
Impulsiv ging sie zu ihm hinüber, setzte sich auf die Armlehne seines Sessels und strich mit der Hand sanft über sein Haar. Ganz überraschend begann sie plötzlich zu weinen. Sie achtete nicht darauf, daß die Tränen ihr Make-up verschmierten, die Wimperntusche auflösten und graue Streifen über ihr Gesicht zogen. Unwillkürlich mußte ich an Fensterscheiben in einem Fabrikviertel denken, wenn die ersten Regentropfen den Ruß und Staub in grauen Bahnen herunterspülen.
»Nimm dich in acht, Onkel Harry«, sagte sie schluchzend. »Du bist der einzige Mensch in der Welt, den ich habe.«
Man sah Harry Sharpies an, wie glatt ihm das ‘runterging.
»Warum sagst du das, Shirley?« fragte er.
»Weil ich dich so lieb habe und weil... oh, liebster Onkel Harry, ich bin so allein auf der Welt.«
»Hat Bob Cameron dir irgend etwas gesagt?« fragte er. »Ich meine, daß er sich bedroht fühlte oder etwas Derartiges?«
Sie schüttelte ihr von den Tränen verunstaltetes Gesicht.
»Ich begreife es nicht«, sagte Sharpies. »Ich kann es einfach nicht fassen.«
Er legte seinen Arm um ihre Taille und klopfte ihr aufmunternd auf die Hüfte. Dann stand er mühsam auf. »Ich muß gehen, Shirley«, sagte er, »ich habe viel zu tun und muß Mr. Lam zu seinem Büro zurückbringen. Ich habe versprochen, nur einen Moment hierzubleiben.«
Sie war wieder gnädig zu mir. Die Tränen hatten ihren Zorn weggeschwemmt. Sie reichte mir ihre weiche, anschmiegsame Hand und sagte ein paar höfliche Worte. Mit den Augen liebkoste sie Harry Sharpies. Der rote Lippenstift auf ihrem Mund veranlaßte ihn, Abstand zu wahren. Ich fragte mich, ob er ihren Küssen gegenüber auch dann so zurückhaltend war, wenn er sein Mündel ohne die Gesellschaft eines anderen besuchte.
Ehe sie die Tür schloß, suchte sie mit ihren Augen seinen Blick. »Laß mich nicht so allein, Onkel Harry, komme wieder, sobald du kannst, bitte.«
Das versprach er. Als wir den Korridor entlanggingen, fragte ich Sharpies unvermittelt: »Sie weigert sich also entschieden, Geld aus dem Nachlaß anzunehmen, wenn Hockley nicht das gleiche bekommt?«
»Das ist richtig.«
Ich ließ mir das noch einmal durch den Kopf gehen. Wenn das stimmte, konnte sie durch die gefühlvolle Zurschaustellung ihrer Zuneigung für die Nachlaßverwalter nichts gewinnen. Die Erklärung für ihre große Liebe zu dem »Onkel« läge auf der Hand, wenn Shirley Bruce davon profitiert hätte, weil sie ein nettes, süßes Mädchen war, und wenn Hockleys Anteil zur Strafe, da er sich dem Spiele und der Verschwendung hingab, verringert worden wäre.
»So eine Wohnung kostet viel Geld«, bemerkte ich.
Er nickte zustimmend.
»Hat sie außer den Zuwendungen aus der Erbschaft noch andere Einnahmen?«
Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um zu erwidern, daß mich das eigentlich nichts angehe. »Natürlich. Ich weiß allerdings nicht, wieviel.«
Da er gerade in der Stimmung war, Fragen zu beantworten, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe.
»Wie hoch ist der Betrag, den sie aus dem Nachlaß erhält?«
»Es sind fünfhundert Dollars monatlich.«
»Und Robert Hockley bekommt das gleiche?«
Er nickte wieder.
»Damit sollte er ganz gut auskommen können.«
»Eigentlich ja. Aber er ist ein Spieler. Jetzt hat er sich diese Werkstatt eingerichtet und zu arbeiten angefangen. Wahrscheinlich war er dazu gezwungen, denn er steckte bis über die Ohren in Schulden. Vielleicht bessert er sich, wenn erst einmal das Pflichtgefühl gegenüber der Arbeit bei ihm geweckt ist. Ich hoffe es jedenfalls.«
»Und woher hat Miss Bruce ihre anderen Einnahmen? Arbeitet sie?«
»O nein.«
»Ist sie an einem Geschäft beteiligt?«
»Ja. Sie ist sehr gescheit, schlau wie ein Fuchs. Ich möchte wissen, wie sie auf die Idee kommt, es könne auch mir etwas passieren. Das gefällt mir gar nicht. — Glauben Sie ja nicht, daß alles auf der Welt so ruhig und ordentlich zugeht, wie es Ihnen die Leute weismachen wollen. Das Leben ist rücksichtslos. Wenn Sie versuchen wollen, einen Blick hinter die Kulissen...Warum rede ich nur so viel. Jetzt werde ich nichts mehr sagen. Schweigen Sie bitte auch eine Weile. Ich bringe Sie noch zu Ihrem Büro, Lam.«
Erst als wir dort
Weitere Kostenlose Bücher